Archer Jeffrey
einer Katholikin, angehalten hatte. Er betete sie an und beklagte sich in meiner Anwesenheit nie, daß er immer allein in die Synagoge gehen mußte. »Mischehe« ist ein jetzt schon fast antiquierter Ausdruck, doch damals, um die Jahrhundertwende, waren meinen Eltern dafür bestimmt große persönliche Opfer abverlangt worden.
Ich mochte St. Paul’s vom ersten Tag an, gleich als ich durch den Eingang marschierte. Vielleicht lag es daran, daß mir zum erstenmal niemand vorwarf, ich arbeite zu viel. Nur eines gefiel mir nicht, daß man mich »Porky« nannte. Ein Mädchen aus der Klasse über mir, Daphne Harcourt-Browne, erklärte mir später die doppelte Bedeutung: dick, aber auch kratzbürstig. Daphne hatte blondes Lockenhaar, und ihr Spitzname war »Poshy«, was sie ihrer eleganten Kleidung verdankte. Wir waren zwar nicht eigentlich Freundinnen, aber unsere gemeinsame Vorliebe für Windbeutel brachte uns zusammen – vor allem, als ihr klar wurde, daß ich eine unerschöpfliche Quelle hatte. Daphne hätte wirklich gern dafür bezahlt, aber ich ließ es nicht zu, weil meine Klassenkameradinnen denken sollten, wir wären eng befreundet. Daphne lud mich sogar einmal zu sich nach Hause ein, sie wohnte in Chelsea, aber ich erfand eine Ausrede, weil ich wußte, daß ich sie sonst auch zu mir nach Whitechapel hätte einladen müssen.
Daphne schenkte mir meinen ersten Kunstband, Die Kunstschätze Italiens, sie revanchierte sich damit für mehrere Marshmallows. Von dem Tag an wußte ich, daß ich über ein Gebiet gestolpert war, das mich für den Rest meines Lebens faszinieren würde. Obwohl ich nie dahinterkam, weshalb eine der ersten Seiten des Buches herausgerissen war.
Daphne stammte aus einer der besten Familien Südenglands. Sie verkörperte all das, was ich mir unter der feinen Gesellschaft vorstellte. Deshalb dachte ich, nachdem ich St. Paul’s verlassen hatte, daß wir uns nie wieder begegnen würden. Schließlich war Lowndes Square wohl kaum meine Gegend. Allerdings, um fair zu sein, auch das East End nicht, in dem Leute wie die Trumpers lebten.
Und was diese Trumpers betraf, konnte ich meinem Vater nur beipflichten. Mary Trumper mußte, nach allem, was man über sie erzählte, eine Heilige gewesen sein. George Trumper war ein Mann, dessen Benehmen untragbar war; er hatte nicht das Format seines Vaters, den Tata gern mit dem jiddischen Wort mensch bezeichnete. Der junge Charlie – der, soweit ich es beurteilen konnte, immer etwas ausheckte – hatte, wie Tata es nannte, eine Zukunft. Die guten Anlagen mußten wohl eine Generation übersprungen haben, meinte er.
»Der Junge ist nicht schlecht für einen goy «, sagte er. »Er wird eines Tages seinen eigenen Laden haben, vielleicht sogar mehr als einen, glaub mir.«
Ich nahm diese Bemerkungen nicht wirklich ernst, bis ich nach Vaters Tod sonst niemand mehr hatte, an den ich mich hätte wenden können.
Tata hatte sich oft genug beklagt, daß er seine beiden Gehilfen nie länger als eine Stunde allein in der Bäckerei lassen konnte, ohne daß etwas schiefging. »Kein saychel «, sagte er von jenen, die nicht bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. »Ich möchte lieber gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn ich einmal einen ganzen Tag frei nähme.«
Während Rabbi Glikstein Tata bei seiner levoyah den letzten Segen gab, gingen mir diese Worte durch den Kopf. Mutter lag noch bewußtlos im Krankenhaus, und die Ärzte konnten mir nicht sagen, ob sie sich je wieder ganz erholen würde. Bis auf weiteres hatte man mich meiner Tante Harriet aufgehalst, die ich bisher nur von Familientreffen kannte. Ich erfuhr, daß sie an einem Ort namens Romford lebte, und da sie mich bereits am Tag nach der Beerdigung dorthin mitnehmen sollte, blieben mir nur wenige Stunden, eine Entscheidung zu treffen. Ich überlegte, was mein Vater unter diesen Umständen gemacht hätte, und kam zu dem Schluß, er hätte, um seine Worte zu gebrauchen, »einen kühnen Schritt« getan.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war mein Entschluß gefaßt. Ich würde die Bäckerei an den Höchstbietenden verkaufen – außer Charlie Trumper war bereit, die Verantwortung selbst zu übernehmen. Wenn ich so zurückdenke, muß ich gestehen, daß ich meine Zweifel hatte, ob Charlie dazu überhaupt fähig war, doch schließlich überwog Tatas hohe Meinung von ihm.
Während des Unterrichts an jenem Vormittag arbeitete ich einen Plan aus; und sobald die Schule aus war, nahm ich den Zug von
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