Archer Jeffrey
werden würde, da es Charlie nun nicht mehr gab. Ich erzählte ihr sogleich von der Abmachung zwischen Charlie und mir, und das zumindest zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie erklärte sich einverstanden, mich zu der Bausparkasse zu begleiten, um uns Charlies Anteil ausbezahlen zu lassen.
Ich hatte vor, mich darum zu kümmern, daß das Geld gerecht unter den Schwestern aufgeteilt würde, wie es Charlies Wunsch gewesen war. Doch der zweite Geschäftsführer der Bausparkasse machte uns höflich aber bestimmt darauf aufmerksam, daß ich leider vor Ablauf des vollen Jahres nicht einen Penny der eingezahlten Summe abheben könne. Er brachte sogar den Vertrag herbei, den ich unterschrieben hatte, und wies mich, zur Bestätigung seiner Worte, auf die betreffende Klausel hin. Kitty stand sofort auf und beschimpfte den Geschäftsführer mit Worten, die ihn erröten ließen, dann stürzte sie davon.
Wie sich herausstellte, sollte ich noch guten Grund haben, für diese Klausel dankbar zu sein. Wie leicht wäre es dazu gekommen, daß ich Charlies sechzig Prozent unter Sal, Grace und dieser schrecklichen Kitty aufgeteilt hätte, die mir Charlies Heldentod nur vorgeschwindelt hatte. Ich erfuhr die Wahrheit erst, als Grace mir im Juli von der Front einen Brief schrieb, in dem stand, daß Charlie nach der zweiten Schlacht an der Marne nun heimgeschickt würde. Er hatte eine Zehe verloren, war ansonsten aber wohlauf. Da schwor ich mir, ihm gleich an dem Tag, an dem er in England ankam, seinen Anteil zu geben; ich wollte diese Trumpers und ihre Probleme ein für allemal los sein.
Wie sehr ich mir wünschte, Tata hätte erleben können, daß ich am Bedford College studierte! Seine Tochter an der Londoner Universität! Das hätte ganz Whitechapel immer wieder zu hören bekommen. Doch ein deutsches Luftschiff hatte es verhindert und obendrein meine Mutter zum Krüppel gemacht, was sie indes nicht daran hinderte, bei ihren Freundinnen anzugeben, weil ich zu den ersten Frauen aus dem East End gehörte, die sich an der Universität einschreiben durften.
Nachdem ich nach Bedford geschrieben hatte, daß ich den Studienplatz annehmen würde, schaute ich mich nach einem Zimmer in Universitätsnähe um. Ich war entschlossen, ein wenig Selbständigkeit zu beweisen. Mutter, deren Herz sich nie ganz von dem Schock durch Tatas Verlust erholte, zog zu Tante Harriet nach Romford. Sie konnte nicht verstehen, weshalb ich unbedingt in London wohnen wollte, und bestand darauf, daß die Unterkunft, für die ich mich entschied, von der Universität gutgeheißen werden müsse. Außerdem betonte sie, daß ich die Räumlichkeiten nur mit einem Mädchen teilen dürfe, das sie unter die Lupe genommen hatte. Sie wurde es nie müde zu wiederholen, daß ihr die lockeren Sitten gar nicht gefielen, die sich seit Kriegsbeginn eingeschlichen hatten.
Ich stand zwar in Verbindung mit mehreren Schulfreundinnen von St. Paul’s, kannte jedoch nur eine, die mehr Wohnraum in London hatte, als sie brauchte, und befürchtete, daß sie sich als meine einzige Hoffnung erweisen würde, wenn ich nicht einen Teil meines Lebens in einem Zug zwischen Romford und Regent’s Park verbringen wollte. Ich schrieb Daphne Harcourt-Brown am nächsten Tag.
Sie lud mich zum Tee in ihre kleine Wohnung in Chelsea ein, und ich stellte erstaunt fest, daß sie fast soviel abgenommen hatte wie ich. Daphne hieß mich nicht nur mit offenen Armen willkommen, sondern äußerte zu meiner Überraschung sogar ihre Freude darüber, daß ich an einem Zimmer bei ihr so interessiert war. Ich bestand darauf, ihr für das Zimmer eine wöchentliche Miete von fünf Shilling zu bezahlen, und fragte sie auch, etwas besorgt, ob sie zum Tee zu meiner Mutter nach Romford kommen könne. Die Vorstellung amüsierte Daphne offenbar, und sie reiste in der folgenden Woche mit mir nach Essex.
Meine Mutter und meine Tante gaben den ganzen Nachmittag kaum ein Wort von sich. Der Monolog, bei dem es um Jagdbälle, Fuchsjagden, Polo und den schändlichen Niedergang guter Manieren einiger Gardeoffiziere ging, umfaßte nicht gerade die geeigneten Themen, über die sie ihre maßgebliche Meinung hätten äußern können, nach der Daphne sie des öfteren fragte. Es überraschte mich durchaus nicht, als Mutter mir, nachdem Tante Harriet die zweite Schale mit Teegebäck hereingebracht hatte, mit glücklichem Nicken ihr Einverständnis mitteilte.
Tatsächlich war der einzige peinliche Augenblick des Nachmittags, als Daphne
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