Archer Jeffrey
Square 26 auszusetzen hatte. Ich konnte es kaum erwarten, Mama und natürlich auch Papa die Neuigkeit mitzuteilen, daß ich jetzt, wie sie es immer wieder verlangten, eine passende
Mitbewohnerin gefunden hatte.
»Aber wer ist dieses Mädchen?« fragte Mutter, als ich übers
Wochenende heim nach Harcourt Hall fuhr. »Kennen wir sie?« »Ich glaube nicht, Mama. Sie ist eine Schulkameradin vom
St. Paul. Der akademische Typ.«
»Blaustrumpf, meinst du?« warf Vater ein.
»Du hast es erfaßt, Papa. Sie geht auf die Hochschule,
Bedford College heißt sie, glaube ich, um die Geschichte der
Renaissance oder so was Ähnliches zu studieren.«
»Wußte gar nicht, daß sie auch Mädchen zulassen«,
brummte Vater. »Gehört wohl ebenfalls zu den Ideen dieses
verdammten kleinen Walisers von einem neuen Britannien.« »Du mußt aufhören, so von Lloyd George zu reden!« rügte
ihn meine Mutter. »Immerhin ist er unser Premierminister!« »Deiner vielleicht, meine Liebe, aber ganz bestimmt nicht
meiner. Schuld sind diese Suffragetten«, wartete Vater mit
einem seiner üblichen Trugschlüsse auf.
»Liebling, du gibst den Suffragetten die Schuld für fast
alles«, erinnerte ihn Mutter. »Sogar für die Mißernte im
vergangenen Jahr. Aber«, fuhr sie fort, »kommen wir zu
diesem Mädchen zurück. Nach deiner Beschreibung könnte sie
einen guten Einfluß auf dich ausüben, Daphne. Was sagtest du,
woher sind ihre Eltern?«
»Das habe ich noch gar nicht gesagt. Aber ich glaube, ihr
Vater war Geschäftsmann irgendwo im Osten, und ich bin
nächste Woche bei ihrer Mutter zum Tee eingeladen.« »Singapur, vielleicht?« überlegte Vater. »Da drüben sind
gute Geschäfte zu machen, mit Gummi und dergleichen.« »Nein, ich glaube nicht, daß er im Gummigeschäft war,
Papa.«
»Nun ja, was auch immer, bring das Mädchen mal
nachmittags mit«, forderte Mutter mich auf. »Oder komm mit
ihr übers Wochenende hierher. Jagt sie?«
»Nein, das glaube ich nicht, Mama, aber ich werde sie bestimmt bald zum Tee einladen, damit ihr beide sie
begutachten könnt.«
Ich muß gestehen, ebenso wie Mutters Aufforderung
amüsierte mich der Gedanke, zum Tee zu Beckys Mutter zu
kommen, damit sie sich vergewissern könne, daß ich die
richtige Art von Mädchen für ihre Tochter war. Immerhin war
ich ziemlich sicher, daß ich das nicht war. Soviel ich mich
erinnern konnte, war ich noch nie östlich des Aldwychs
gewesen, und so fand ich die Idee, nach Essex zu fahren, noch
aufregender als eine Reise ins Ausland.
Glücklicherweise verlief die Fahrt nach Romford glatt,
hauptsächlich wohl, weil Hoskins, der Chauffeur meines
Vaters, die Strecke gut kannte. Er erzählte mir, daß er von
Dagenham kam, das noch tiefer in diesem Essexer Dschungel
lag.
Ich hatte bisher keine Ahnung gehabt, daß es solche Leute
überhaupt gab. Sie waren weder Dienstboten, noch gehörten sie
den höheren Berufsständen an, und sie waren auch keine
Angehörigen des Landadels. Ich könnte nicht behaupten, daß
ich viel an Romford fand, das, wie sich herausstellte, eine ganz
schöne Strecke vom Lowndes Square entfernt war. Aber Mrs.
Salmon und ihre Schwester Miss Roach hätten nicht
gastfreundlicher sein können. Mrs. Salmon erwies sich als
praktische, vernünftige, gottesfürchtige Frau, die ein köstliches,
selbstgemachtes Gelee zum Teegebäck anbot; somit war die
Fahrt auf keinen Fall ganz umsonst gewesen.
Becky zog in der folgenden Woche bei mir ein, und ich war
entsetzt, als ich feststellte, wie schwer das Mädchen arbeitete.
Sie verbrachte offenbar den ganzen Tag im College, und wenn
sie heimkam, aß sie bloß ein Sandwich und trank ein Glas
Milch dazu, dann vertiefte sie sich in ihre Lehrbücher, bis sie
einschlief, lange nachdem ich längst zu Bett gegangen war. Ich
konnte nie so recht ergründen, wem das Ganze nützen sollte.
Jedenfalls nicht jemandem namens Charlie Trumper. Von Charlie Trumper und seinen Ambitionen hörte ich zum
erstenmal kurz nach ihrem törichten Besuch bei John D. Wood.
Dieses ganze Getue, bloß weil sie seinen Karren verkauft hatte,
ohne ihn zuvor zu fragen. Ich hielt es für angebracht, sie darauf
aufmerksam zu machen, daß zwei meiner Ahnen enthauptet
worden waren, weil sie versucht hatten, Counties zu stehlen,
und ein anderer Vorfahr wegen Hochverrats in den Tower
geworfen worden war; ich mußte unwillkürlich lächeln, weil
ich dachte, daß ich mich dadurch zumindest eines Verwandten
brüsten konnte, der seine letzten Tage in der Nähe des East
Ends zugebracht
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