Archer Jeffrey
wurde angewiesen, die Schüssel erst auszuleeren, ehe er das neue Wasser hineingoß. »Sie dürfen draußen warten, bis ich Sie rufe«, gestattete ihm Mrs. Westlake großmütig, nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte. Charlie verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ihm schien, als mache er unzählige Tassen Tee und schleppe unzählige Kessel Wasser hin und her und käme immer mit dem falschen zur falschen Zeit an, bis er offenbar nicht mehr gebraucht wurde und nichts mehr zu tun blieb, als in der Küche hin und her zu laufen und das Schlimmste zu befürchten. Dann hörte er einen kurzen, kläglichen Schrei.
Becky beobachtete die Hebamme, als diese ihr Kind an den Beinen hochhob und ihm einen sanften Klaps auf den Po versetzte. »Das tu’ ich immer gern«, sagte Mrs. Westlake. »Ist ein gutes Gefühl, wenn man weiß, daß man was Neuem auf die Welt geholfen hat.« Sie wickelte das Kind in ein Handtuch und legte das kleine Bündel der Mutter in die Arme. »Ist es …?«
»Ein Junge, leider«, meinte die Hebamme. »Das wird der Welt wahrscheinlich kein bißchen weiterhelfen. Das nächste Mal müssen Sie schon ein Mädchen zuwege bringen.« Sie grinste. »Falls er noch dazu imstand ist.« Sie deutete mit dem Daumen zur geschlossenen Tür.
»Aber er ist …«, versuchte es Becky noch einmal.
»Nutzlos, ich weiß. Wie alle Männer.« Mrs. Westlake öffnete die Schlafzimmertür und rief: »Es ist überstanden, Mr. Salmon. Sie können aufhören, Löcher in den Boden zu treten, und sich Ihren Sohn ansehen!«
Charlie rannte so schnell herbei, daß er die Hebamme fast umgeworfen hätte. Dann stellte er sich ans Ende des Bettes und starrte auf das kleine Bündel in Beckys Armen.
»Er ist ein häßlicher kleiner Bursche, nicht wahr?« murmelte Charlie.
»Na ja, wir wissen ja, an wem das liegt«, entgegnete die Hebamme. »Hoffen wir, daß der Kleine sich nicht auch eine gebrochene Nase einhandelt. Auf jeden Fall brauchen Sie als nächstes eine Tochter, das hab’ ich Ihrer Frau schon gesagt. Ach übrigens, wie wollen Sie ihn denn nennen?«
»Daniel George«, antwortete Becky ohne Zögern. »Nach meinem Vater«, erklärte sie und blickte zu Charlie hoch.
»Und meinem«, sagte Charlie und legte den Arm um Becky und das Baby.
»Ich geh’ jetzt, Mrs. Salmon. Aber ich komm’ morgen, ganz früh, wieder.«
»Nicht Salmon, sondern Trumper«, sagte Becky. »Salmon war mein Mädchenname.«
»Oh«, murmelte die Hebamme und wirkte zum erstenmal etwas verwirrt. »Sie müssen die Namen auf meinem Auftragsblatt durcheinandergebracht haben. Also gut, dann bis morgen, Mrs. Trumper.« Sie schloß die Tür hinter sich.
»Mrs. Trumper?« fragte Charlie.
Becky nickte. »Es hat ja, weiß Gott, lange genug gedauert, bis ich zur Einsicht gekommen bin, finden Sie nicht, Mr. Trumper?«
Daphne 1918 – 1921
13
Ich muß gestehen, als ich den Brief öffnete, wußte ich nicht sofort, wer Becky Salmon war. Doch dann erinnerte ich mich, daß es im St. Paul’s ein ungewöhnlich gescheites, etwas rundliches Mädchen dieses Namens mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Windbeuteln gegeben hatte. Wenn ich mich recht entsinne, war das einzige, womit ich mich je dafür revanchiert hatte, ein Kunstbuch gewesen, das mir eine Tante aus Cumberland zu Weihnachten geschenkt hatte.
Jedenfalls, bis ich die obere sechste Klasse erreicht hatte, war das kluge kleine Ding bereits in der unteren sechsten, obwohl sie gute zwei Jahre jünger war als ich.
Nachdem ich ihren Brief zum zweitenmal gelesen hatte, konnte ich mir immer noch nicht vorstellen, warum sie mich überhaupt sprechen wollte, und ich dachte mir, daß ich es am ehesten herausfinden würde, wenn ich sie zum Tee in meine kleine Wohnung in Chelsea einlud.
Als ich Becky da zum erstenmal wiedersah, erkannte ich sie kaum noch. Sie hatte nicht nur ganz ordentlich abgenommen, sondern hätte auch das ideale Modell für die PepsodentWerbung abgegeben, die einem von jeder Straßenbahn entgegensprang – Sie wissen schon, das nette junge Mädchen, das beim Lächeln strahlend weiße, perfekte Zähne zeigt. Ich muß zugeben, ich war richtig neidisch.
Becky erklärte mir, daß sie für ihre Universitätszeit ein Zimmer in London brauchte. Ich freute mich, daß ich sie bei mir unterbringen konnte. Immerhin hatte meine alte Dame mir schon des öfteren klargemacht, wie sehr es ihr mißfiel, daß ich allein hier wohnte, und daß sie einfach nicht verstehen könne, was ich an unserem Stadthaus am Lowndes
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