Argemí, Raúl
Erinnerungen an mein erbärmliches Leben.
Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, um dem grellen Licht zu entgehen, das meinen Kopf martert, sehe ich den Mann vor mir, der an der Bajada de los Mallines abstürzte. Das Gesicht ist verdeckt, ein paar Züge, die sich unter einer Kapuze aus schmutzigem, in der Nacht vielleicht dunkel wirkendem Stoff abzeichnen und die sich gespenstisch bewegt, wenn er atmet. Er redete die ganze Zeit, als wollte er die Stille übertönen. Und ich lauschte ihm mit der Aufmerksamkeit von jemandem, der zum ersten Mal ins Kino geht; mit der Gier eines Schwamms.
Nein. Er hörte mir zu, als wolle er jedes einzelne Wort und jede meiner Gesten auswendig lernen.
Es stimmt schon, ich redete viel, wir beide redeten viel. Ich möchte gar nicht an die Geständnisse denken, die wir uns gegenseitig machten. Ein mit Alkohol abgefüllter Versager ist meistens gesprächig bis zum Überdruss.
Ich habe Kopfschmerzen, und da draußen vor der Tür machen ein paar einen drauf.
»Arschlöcher. Glaubt ihr etwa, ich bin ein verdammter Indianer?«, versuchte ich zu schreien, aber alles, was ich zustande brachte, war ein Zähneknirschen. Zorn überkam mich.
Der sinnlose Wutausbruch tat mir gut. Das Adrenalin verscheuchte die Müdigkeit, und eine Zeit lang konnte ich mich mit dem Chamäleon unterhalten.
Ich erfuhr nicht viel. Ich fragte ihn alles Mögliche, doch er ging nicht darauf ein. Er hörte mir kaum noch zu. Er verliert sich in seiner eigenen Welt, und ich muss mir das Hirn zermartern, um die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen.
Zum Glück war es diesmal einfach. Ich begriff recht schnell, dass er davon erzählte, wie er sich als Krankenhausarzt ausgegeben hatte. Zum Teufel mit dem Kerl! Ich könnte schwören, dass er die Grenzen nicht mehr wahrnahm, wenn er eine Rolle spielte, und dass er nicht einmal selbst mehr wusste, wer er war. Das ist schon eine Begabung …
Er berührte die Schulter der Alten, die den Rosenkranz betete, und trat hinter den Wandschirm. Sie erwiderte die tröstende Geste mit einem dankbaren und würdevollen Blick.
Der Sterbende war ein alter Mann mit einem von Runzeln übersäten Gesicht, verbraucht von Jahrzehnten der Arbeit unter freiem Himmel. Sein Atem hob kaum die Laken auf seiner Brust; aus diesem Schlaf würde er nicht mehr erwachen.
Pater Carlos beugte sich über den Körper und küsste seine Stirn. Dann faltete er die Hände und bewegte kaum die Lippen zum stummen Gebet.
Er bemerkte, wie ihn durch die Spalten des Wandschirms die Angehörigen des Alten beten sahen, und vielleicht dankten sie Gott, dass er ihnen einen Priester geschickt hatte.
Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Pater Carlos betete in Wahrheit dafür, dass die Seele des alten Tagelöhners diesen hinfälligen Körper verließ, wie ein toter Fisch am Meeresufer angeschwemmt wird, und in eine andere Welt eintrat. Eine Welt, die besser sein musste als die, die er kennen gelernt hatte.
»Sonst hat das alles sowieso keinen Sinn«, murmelte der Priester. »Vater unser.«
Er legte den Daumen über den Zeigefinger und zeichnete ein Kreuz auf die Stirn, den Mund und ein drittes auf das Herz des Alten. Dann ging er geräuschlos zu der alten Frau zurück, die stumm, den Rosenkranz zwischen den verkrampften Fingern, vor sich hin weinte.
»Der Herr sei mit ihm …«
»Es schmerzt uns, Pater, es schmerzt uns zutiefst. Er war so gut …«
»Gewiss war er ein guter Mensch«, stimmte Carlos mit einem aufmunternden Lächeln zu. »Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie er war, und vergeben Sie ihm seine Sünden. Gott hat ihm bereits verziehen.«
»Er war so gut … Wir sind aus Chiloé hierher gekommen, Pater, schon vor langer Zeit. Bestimmt kennen Sie es …«
Die Alte hatte einen leichten chilenischen Einschlag wahrgenommen und meinte, in ihm einen Landsmann zu erkennen. Carlos ließ sie in dem Glauben; das war ihm schon ein paar Mal passiert und hatte ihm bisher immer zum Vorteil gereicht.
»Die Welt ist groß … und so fremd«, sagte er mit einem kurzen traurigen Lächeln, das von schmerzhaften Erlebnissen zeugte. »Sie müssen jetzt stark sein. Sie dürfen den Glauben nicht verlieren.«
Als er die Alte verließ, trat einer der Söhne mit gesenktem Blick zu ihm. Es war eine Schlussszene, die schon vor langer Zeit geschrieben worden war, und sie sollte sich bis ans Ende aller Tage wiederholen.
»Wir sind einfache Arbeiter, Pater. Und Sie wissen ja, auf den Landgütern wird man schlecht
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