Argus #5
Dingen erzählen können, die sie in ihrem Leben getan hatte. Sie konnte sich nur auf sich selbst verlassen, auf niemanden sonst.
Sie griff nach dem Handy in ihrer Jackentasche und rief zum x-ten Mal Dominicks Nummer auf. Ihr Finger schwebte über der Wähltaste. Als wäre sie ein Teenager, der von zu Hause ausgerissen ist und nun in einer fremden Stadt eine Telefonzelle und einen Vierteldollar gefunden hat. Sie wollte ihn so gerne anrufen.
«Tut mir leid» würde niemals reichen .
Verzweifelte Eltern würden einfach sagen: «Komm zurück nach Hause!» Alle Eltern wollten nur, dass ihr Kind wieder nach Hause kam, was auch immer es angestellt hatte, warum auch immer es fortgegangen war. Hätte C. J. Kinder gehabt, sie hätte genauso reagiert. Hätte sie nur Kinder haben können … Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. Du musst mir nichts erklären. Komm einfach wieder zu mir nach Hause.
Aber sie war kein Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau. Und sie war einfach fortgegangen, ohne ihm zu erklären, warum. Sie steckte das Handy wieder in die Tasche.
Aus dem Nebenzimmer hörte sie den Fernseher, wie eine leise Stimme, die immer lauter und lauter zu werden schien, als die Worte langsam in ihr Bewusstsein drangen.
«… kam es heute am frühen Morgen zu einer schockierenden Enthüllung. Chet Meyers, der Leiter der Gefängnisbehörde von Florida, bestätigte in einer öffentlichen Erklärung, dass der verurteilte Serienmörder bereits seit dem 10. August verschwunden ist. Mr. Meyers bestritt jeden Vertuschungsversuch, erläuterte aber nicht, warum der Vorgang bisher nicht öffentlich gemacht wurde. Er sagte nur, die Ermittlungen dauerten zur Stunde an.»
C. J. stand auf und ging ins Wohnzimmer hinüber. Luna schnüffelte wie verrückt auf dem Teppich herum und drehte sich dabei immerzu im Kreis. Doch C. J. beachtete sie gar nicht, sie starrte nur fassungslos auf den Berichterstatter auf dem Bildschirm. Über seinem Kopf schwebte eine Graphik mit dem Logo des Miami Herald .
Luna winselte leise.
Nein, nein, nein, nein … Sag es nicht. Sag es nicht. Sag es nicht, sonst fange ich an zu schreien.
Die Graphik verschwand, und an ihre Stelle trat das Farbfoto des Mannes, der sie jede Nacht in ihren Albträumen in seiner Gewalt hatte.
Luna war vor der Haustür stehen geblieben und fing an zu bellen.
«Noch am Morgen wurde Bill Bantling auf die Liste der meistgesuchten flüchtigen Straftäter des FBI gesetzt», fuhr der Reporter mit düsterer Stimme fort. «Der Serienmörder, der unter dem Namen ‹Cupido› bekannt wurde, schaffte es gleich auf Anhieb auf Platz zwei.»
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L una saß in Habtachtstellung vor der Haustür und bellte mit hochgezogenen Lefzen. Da draußen war jemand. C. J. wich zurück und stieß dabei an den Dielentisch. Das Foto, das sie und Dominick auf dem Pike’s Place Market in Seattle zeigte, fiel herunter, und das Glas zerbrach.
Im Wohnzimmer, nur wenige Schritte entfernt, spuckte der Fernseher weitere Informationen aus:
Landesweit wurde heute die Jagd auf William Rupert Bantling eröffnet, den grausamen Serienmörder, den die Weltöffentlichkeit vor allem als ‹Cupido› kennt. Berichten zufolge soll er aus dem Todestrakt entkommen sein …
Über seinen Aufenthaltsort ist bisher nichts bekannt …
… erst 2004 knapp der Hinrichtung entgangen …
Ungenannten Quellen zufolge war Bantling in Miami, um dort bei einem Mordprozess als Zeuge auszusagen …
Alles drehte sich um sie. Sie bückte sich, hob wie mechanisch die Glasscherben auf und schnitt sich dabei in die Hand. Dieselbe Hand, an der ihr Gregory Chambers Jahre zuvor mit seinem Skalpell eine Sehne durchtrennt hatte. Blut strömte ihr über die Handfläche, als käme es direkt aus der alten Wunde.
Wie konnte er entkommen sein? Wie hatte das passieren können?
Luna kam und leckte ihr die Hand, dann lief sie zurück zur Haustür und setzte sich wieder winselnd davor. Zurück zu C. J., zurück zur Tür, immer hin und her, winselnd und bellend. «Luna, was ist denn? Was ist los, Mädchen?», flüsterte C. J. mit bebender Stimme. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie wusste genau, was los war. Da draußen war jemand. Oder es war vor kurzem jemand da gewesen.
Da klingelte es.
C. J. presste sich an die Wand. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
Es klingelte noch einmal. Luna sprang an der Tür hoch, kratzte daran und bellte aus Leibeskräften.
Wenn sie sich jetzt in einer Ecke verkroch oder im Schrank
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