Argus #5
in der Küche alles unverändert. Sie tauschte den Schneebesen gegen ein Küchenmesser ein, dann schlich sie langsam ins Wohnzimmer hinüber. Ihr Herz klopfte wie wild, und Luna wich ihr nicht von der Seite. Aber auch hier schien alles in Ordnung zu sein. Die Zeitschriften lagen in unveränderter Reihenfolge auf dem Couchtisch. Keines der gerahmten Fotos war verschoben. Nichts fehlte. Die Vorhänge waren alle in der üblichen Position, die Jalousien heruntergelassen. C. J. überprüfte das ganze Haus. Alles sah so aus, als wäre es in Ordnung. Alle Fenster waren verschlossen, alle Türen ebenfalls. Und selbstverständlich hatte sie auch die Alarmanlage eingeschaltet, sobald sie nach Hause gekommen war. Den Fehler würde sie kein zweites Mal machen.
Aber genauso hatte es damals auch angefangen, vor dreiundzwanzig Jahren. Er war in ihrer Wohnung gewesen, hatte aus ihrem Kühlschrank gegessen, ihre Post gelesen, ihre Schubladen durchstöbert. In ihrem Bad geduscht. Vielleicht sogar ihre Zahnbürste benutzt. Damals hatte sie die Anzeichen nicht bemerkt, weil sie nicht aufgepasst hatte. Aber jetzt passte sie immer auf.
Okay, C. J., langsam. Gehen wir das Ganze mal logisch an: Bantling sitzt in der Todeszelle in Florida, viertausend Kilometer weit entfernt. Chambers ist tot und schmort in der Hölle, viertausend Kilometer unter uns. Das Experiment ist beendet. Wie hoch sind die Chancen, dass irgendein anderer Täter, den du irgendwann ins Gefängnis gebracht hast, jetzt auftaucht und deinen Kühlschrank umräumt, um dich zu stalken? Du hast die Eier und das Brot selber vertauscht, weiter nichts. So was kommt vor.
Sie holte noch einmal tief Luft und ging zurück in die Küche. Sie konnte es kaum erwarten, diesen Fall endlich abzuschließen. Nach neun Wochen Verhandlung, die eigentlich auf drei angesetzt gewesen war, fühlte sie sich gestresst und ausgebrannt. Und sie war noch nervöser als sonst, seit ihr der Wagen gestohlen worden war. Die Vorstellung, dass irgendein Wildfremder ihr Handschuhfach oder ihre Ablage durchwühlte und sich all die alten Quittungen, Notizzettel und Bonbonpapiere ansah – all die Dinge im Inneren des Grünen Riesen, die ihr einmal gehört hatten –, machte sie ganz verrückt. Das alles hatte eine heftige Welle von Erinnerungen ausgelöst. Jetzt hatte sie schon unsichtbare Hände vor Augen, die sich an ihrem Kühlschrank zu schaffen machten. Nach Kassner stand für die nächsten Wochen kein weiterer Prozess an. Diese Pause würde sie brauchen. Vielleicht ein paar Tage Urlaub im Wine Country oder so etwas. Gutes Essen in schönen Restaurants, dem Los Olivos Café oder dem Brothers zum Beispiel, und dazu literweise Pinot Noir. Und nichts als Weinberge, Pferde und Bauernmärkte, so weit das Auge reichte.
C. J. ging am Beistelltisch in der Diele vorbei, wo zwischen der bunt zusammengewürfelten Ansammlung von Bilderrahmen ein paar ausgewählte Fotos ihres Lebens vor Santa Barbara standen. Auf jedem Bild war Dominick zu sehen. Ihr Hochzeitsfoto am Strand auf den Keys. Ihr Segeltörn durch die Karibik. Mit Luna am Lake Michigan, beim Kaffeetrinken im Regen auf dem Pike’s Market in Seattle. Beim Beignet-Essen im Café du Monde in New Orleans. Auf allen Fotos lächelte C. J., und Dominick war da, an ihrer Seite. Auf jedem einzelnen Bild.
Zurück in der Küche, setzte sie sich auf einen der alten, kunststoffbezogenen Küchenstühle ihrer Großmutter und stützte den Kopf in die Hände.
Was hatte sie eigentlich hier verloren? Warum lief sie immer weiter weg? Warum hatte sie sich erlaubt, das Einzige zu zerstören, was dauerhaft und gut in ihrem Leben war? Warum nur war sie immer so selbstzerstörerisch? Wollte sie auf diese Weise Buße tun?
Sie spürte, dass sie wieder abglitt, wie damals, vor vielen, vielen Jahren in New York. Damals hatte der Zusammenbruch sie in die Psychiatrie geführt, wo sie mit fünfundzwanzig Jahren zeitweilig sogar wegen Selbstmordgefahr unter ständiger Beobachtung stand. Und jetzt schlossen sich die Mauern wieder um sie, Zentimeter für Zentimeter. So langsam, dass sie Monate gebraucht hatte, um überhaupt zu merken, wie nah sie bereits waren. Sie musste ihre Therapie wieder aufnehmen, mit jemandem über das alles sprechen, das wusste sie, aber … nach allem, was sie erlebt hatte, konnte sie einfach keinem Therapeuten mehr vertrauen. Und selbst wenn es ihr gelang, würde sie doch nie ehrlich sagen können, warum sie den Halt verlor, nie von den grauenvollen
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