Argus #5
spritzte ihr aus einer dunkelroten Flasche Wasser ins Gesicht. Dann ohrfeigte er sie.
«Na komm, Schätzchen. Bleib schön wach. Wie viel von dem Zeug hast du ihr gegeben?», fragte er jemanden im Hintergrund. «So können wir nichts mit ihr anfangen.»
«Ich will, dass sie wach ist», sagte noch jemand. Eine zweite Stimme.
«Nicht mehr als sonst auch», gab eine weitere Stimme wütend zurück. «Ich weiß, was ich tue. Und immerhin ist sie hier.»
Daria schaute in die Richtung, aus der die wütende Stimme kam. Es war der Typ aus der Hotelbar. Der braungebrannte Tourist. Wie hieß er noch gleich? Er machte Filme oder so was. Jetzt stand er auf der anderen Seite des Zimmers, neben einem Waschbecken, und sah den halbnackten Mann mit der roten Wasserflasche an. Dann drehte er sich um und sah woandershin.
«Dafür bezahle ich schließlich», meldete sich die zweite Stimme wieder zu Wort. «Wie ihr Puppen oder Tote vögelt, kann ich mir immer ansehen. Ich will, dass sie wach ist und reagiert. Das will ich.»
«Jetzt streitet euch nicht, bitte», sagte eine weitere Stimme. «Versuch’s mal mit noch mehr Wasser.»
«Au ja, Miss Wet-T-Shirt», krähte eine weitere.
Und noch eine. «Nimm doch gleich die Zange. Dann wird sie schon wach.»
Wie viele Leute waren noch in diesem Zimmer? Und wo steckten die alle?
Rein und raus. Auf und ab. Sie konnte den Horizont einfach nicht erkennen.
Der halbnackte Mann ging zu dem Typen aus der Hotelbar hinüber und schubste ihn beiseite. Reid. So hieß er. Reid . Dann sah sie die Tätowierung, die Erzengelflügel, die sich in bunten Farben über seinen Rücken spannten, den Blitz, den der Engel wurfbereit in der Hand hielt. Dieselbe Tätowierung wie bei dem Mann, der Patricia Graber getötet hatte. Daria kannte sie aus dem Video von Richter Lepidus. Wenn der Mörder die Rückenmuskeln anspannte, sah es aus, als bewegten sich die Engelsflügel. Ein unwillkürliches Zittern ergriff Darias ganzen Körper. Auf der Ablage hinter Reid stand ein Laptop. Der halbnackte Mann stand davor und tippte etwas in die Tastatur.
Rein, raus. Rein, raus. Bleib draußen. Nimm nichts mehr wahr. Bleib bewusstlos. Geh wieder dorthin zurück, wo du vorher warst, Daria …
«Die haben mir nicht vorzuschreiben, was ich tun soll. Das hier ist meine Sache. Sie sollen nur zuschauen und keine Anweisungen geben, sonst stelle ich sie alle stumm. Ist das klar? Ich lasse mir von niemandem, der daheim selbst keinen hochkriegt, sagen, was ich zu tun habe. Verstanden?» Der halbnackte Mann klang zornig.
«Es wird spät. Immer später. Hier warten alle darauf, dass du endlich tust, was sie sehen wollen, wofür sie sich eingeschaltet haben», erwiderte Reid. «Also hör endlich auf, dich rauszureden. Der Feed endet um sieben. Hör auf den Mann – nimm die Zange, wenn’s nicht anders geht. Denk wie ein römischer Gladiator und gib den Leuten ihre Spiele. Sie zahlen schließlich genug dafür.» Damit drückte er eine andere Taste am Computer.
Daria beobachtete, wie sich die beiden Männer stritten. Sie stritten ihretwegen. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen – die Bewegungen ihrer Lippen, ihre Gesten. Sie versuchte, sich im Raum umzusehen, zu begreifen, was hier geschah. Sie musste hier raus, sich überlegen, wie sie hier rauskam. Doch so wie alles andere waren auch ihre Gedanken verlangsamt …
Und dann sah sie die Bildschirme.
Sie waren an einer Wand aufgereiht, wie eine verrückte Videoinstallation. Auf jedem Bildschirm waren Gesichter. Männergesichter. Und über den Einzelbildschirmen war ein großer Fernseher mit unterteilter Bildfläche angebracht. Daria zählte die Monitore, während ihr Blick die Reihe entlangwanderte: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …
Daria musste daran denken, was Manny ihr vor ein paar Monaten im Büro über Argus erzählt hatte. Argus. Das Ungeheuer mit hundert Augen.
«Hallo, kleine Lena», sagte Monitor Nummer sechs, als ihr Blick ihn streifte. Es war die Stimme, die verlangt hatte, sie müsse wach sein. Die zweite Stimme.
Nur hatte die Stimme jetzt auch einen Namen.
«Sie sieht ja schrecklich aus», sagte Abby Lunders mit einem Seufzer, als ihr Gesicht sich in den Bildausschnitt schob. Sie saß auf der Sessellehne und strich ihrem Sohn durchs Haar. «Bis jetzt hat sie nur geschlafen. Vor Gericht fand ich sie hübscher. Und lebhafter. Wirklich schade. Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie so stark sediert sind.»
«Du siehst wirklich müde aus», sagte Talbot,
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