Argus #5
Gerichtsgebäude zur Altstadt. In der grünen Parkanlage mit dem Namen «Sunken Garden» fanden regelmäßig Filmvorführungen und Kulturveranstaltungen statt. Ein paar Straßen von der State Street entfernt – der Hauptverkehrsstraße der Stadt –, in einer ruhigen Wohngegend gelegen, stand das Gericht abseits vom lauten, geschäftigen Treiben des Nachtlebens. Als Christina noch in Miami lebte, wäre sie schon am helllichten Tag nie auf die Idee gekommen, zu Fuß durch die Straßen um das Dade County Jail zu flanieren, geschweige denn nach Einbruch der Dunkelheit. Doch hier in Santa Barbara war es anders. Deshalb war sie ja hier.
Es war ein Zufall, dass Christina sich für den Neuanfang, den sie nötig zu haben glaubte, Santa Barbara ausgesucht hatte. Eigentlich weniger ein Zufall als eine spontane und unbedachte Entscheidung. Schwache Impulskontrolle ist ein Symptom von PTBS – posttraumatischer Belastungsstörung, hätte ihr Therapeut gesagt, damals, als sie noch zur Therapie ging. Der überwältigende Drang, aus Angst vor etwas davonzurennen, führt häufig zu mangelhafter Entscheidungsfindung. Dank der Geister ihrer sehr verkorksten Vergangenheit, die ihre posttraumatische Belastungsstörung – und die daraus resultierenden mangelhaften Entscheidungsfindungen – ausgelöst hatten, war sie seit zwei Jahrzehnten auf der Flucht, von New York nach Miami nach Chicago und schließlich nach Santa Barbara. Der jüngste Marathon hatte so ausgesehen: Eine kalifornische Sozialarbeiterin, die geholfen hatte, Christinas an Alzheimer erkrankte Großmutter in einem Pflegeheim unterzubringen, hatte angerufen, um zu melden, dass ein Bett bereitstünde, und gefragt, ob sie kommen könnte, um zu helfen, Nanas Angelegenheiten zu sortieren. Sie war die nächste Verwandte – alle anderen, darunter Christinas Eltern, waren tot. Und sie hatte ja gesagt, aufgelegt, den Wagen gepackt, den Hund mitgenommen, die Haustür abgeschlossen und war von Chicago über die I 290 nach Westen aufgebrochen. Sie hatte niemandem Bescheid gesagt, nicht einmal ihrem Mann, der zufällig allein auf Geschäftsreise war, zum allerersten Mal in ihrer Ehe. Aus ein paar Tagen wurden ein paar Wochen, dann ein paar Monate, und irgendwann … irgendwann konnte sie nicht mehr zurück. Was sie getan hatte, ließ sich nicht wiedergutmachen. Er war immer noch nicht darüber hinweg. Und sie auch nicht.
Zu Christinas magerer Verteidigung war zu sagen, dass sich ihr Kopf damals, als sie Dominick verließ, anfühlte wie ein defekter Schnellkochtopf, der unter Hochdruck stand. Die Albträume, die sie seit Jahren quälten – ein weiteres Symptom jener bösen PTBS-Geister –, ließen sie nachts schweißgebadet und schreiend aufschrecken. Es war nicht fair, Dominick an irgendwas die Schuld zu geben, aber jedes Mal, wenn sie ihren Mann nach einem der Albträume ansah, jedes Mal, wenn er sie im Arm hielt und tröstete und flüsterte, alles würde gut, wusste sie, dass er an all das Schreckliche dachte, das man ihr angetan hatte und weswegen sie so schrie. Sie wusste, wenn sie miteinander schliefen und Dominick sie in dem Lichtstreifen ansah, der durch den Ritz zwischen den Vorhängen fiel, sah er ihn – den Mann, der sie vor all den Jahren mehrfach vergewaltigt und gefoltert und danach in ihrem eigenen Blut hatte liegenlassen, damit sie jämmerlich krepierte. Der Mann, dessen Namen sie niemals aussprachen. Der Mann, der ihrer beider Leben für immer verändert hatte – indem er sie in ein Netz dunkler und tödlicher Geheimnisse einspann. Christina konnte ihrer Vergangenheit nicht entkommen, doch Dominick auch nicht. Vielleicht hatte das zu ihrer überstürzten Entscheidung beigetragen.
Die Luft war kühl. Sie atmete den aromatischen Duft von Knoblauch und gegrilltem Fleisch ein, der aus den Küchen der Restaurants auf der State Street herüberzog. Sie würde heute Abend italienisch kochen. Vielleicht Pasta mit sautierten Shrimps. Nach einem Rezept aus dem Mario-Batali-Kochbuch. Und sie würde eine Portion mehr machen, für Luna, denn Spaghetti waren ihr Leibgericht.
Das Parkhaus auf der Canon Perdido Street war bis Mitternacht geöffnet, doch nach sechs parkte keiner mehr dort, und es war völlig menschenleer. Tagsüber wurde es hauptsächlich von Angestellten der Geschäfte und Kanzleien im Viertel benutzt. Sie fuhren nach Hause, wenn auch das Gericht seine Pforten schloss. Normalerweise parkte Christina in einem anderen Parkhaus, das näher bei der
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