Argus #5
und seinem Vorzeigeweibchen schloss. Auf keinen Fall würde sie den Dreckskerl wissenlassen, dass sie innerlich zitterte. Wenn der Tag kam – und er würde kommen –, an dem er endlich wegen Brandstiftung und Mordes verurteilt wurde, würde sie vom Richter fordern, Richard Kassner für den größten Teil seines restlichen Lebens hinter Gitter zu stecken. Das wusste er, und er hasste sie dafür. Und dann würde sie ihm einen Blick zuwerfen – wenn er in Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt wurde.
Als die Tür sich hinter ihnen schloss, setzte sie sich an den Tisch der Anklage und atmete endlich aus. Unter dem Tisch zitterten ihre Hände. Sie wünschte, es würde ihr nicht so zusetzen. Sie wünschte, sie könnte die Drohungen und bösen Blicke einfach als Nebenwirkung ihres Berufs abtun – so wie sie es früher getan hatte. Sie wünschte, sie wäre so abgebrüht wie ihr Ruf.
Sie blieb noch eine ganze Weile, beantwortete Anrufe und SMS, bis schließlich der Gerichtsdiener kam und sagte, er müsse nun abschließen. Um jeden Preis wollte sie vermeiden, mit ihrem psychopathischen Angeklagten im Fahrstuhl zu stehen. Oder ihm auf dem Parkplatz zu begegnen. Oder im Kino, im Supermarkt, auf der Post. Was bedeutete, dass sie, wenn sie heute Abend hier fertig war, nach Hause fahren und sich verkriechen würde, bis Richard Kassner offiziell verurteilt und endgültig weggesperrt war. Je nachdem, wie die Verhandlung lief, konnte das einige Wochen dauern. Erst dann würde sie nachts wieder ruhig schlafen können. Das redete sie sich zumindest ein.
Das fast hundert Jahre alte spanische Gerichtsgebäude lag verlassen da. Außer Christina war kaum noch eine Menschenseele da, nur der einsame Hausmeister, der im ersten Stock die mexikanischen Saltillo-Fliesen bohnerte, und Joe, der Nachtwächter, der auf seinem Posten an der Information im Erdgeschoss stand. Heute war in dem verschlafenen Gerichtsgebäude nur ihr Fall verhandelt worden, und es war Freitagabend. Die Kollegen der Staatsanwaltschaft auf der anderen Straßenseite waren wahrscheinlich auch schon gegangen, genau wie ihr Chef. Es war Zeit, das lange Wochenende zu beginnen.
Sie winkte Joe über die Schulter zu und trat hinaus auf den gepflegten Hof. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, hing bereits der Duft des Nachtjasmins in der Abendluft. Die Santa Ynez Mountains, in orange- und pflaumenfarbenes Licht getaucht, erhoben sich über den roten Dächern und dem Vorgebirge von Santa Barbara wie auf einer kitschigen Postkarte. Joe folgte ihr, um das zehn Meter hohe, handgeschnitzte Holztor des Gerichts hinter ihr abzuschließen. Das kreischende Rasseln des Schlüssels in dem alten, gusseisernen Schloss jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Doch sie zuckte nicht zusammen, und sie rannte nicht davon. Sie zwang sich, nicht zurückzublicken, sich den Ängsten nicht zu ergeben, denn sonst konnte es sein, dass sie sich von der Paranoia überwältigen ließ. Dann würde sie wieder in Panik verfallen und von dort in eine Finsternis, aus der sie vielleicht nie wieder herauskam. Es war doch nur der alte Joe.
Sie holte tief Luft und ging los. Ihr Ford Explorer stand ein paar Straßen weiter. Sie würde den Wagen nehmen, ihre Akita-Hündin Luna aus der Hundetagesstätte abholen, nach Hause fahren und Feierabend machen. Vielleicht noch einen langen Spaziergang mit Luna. Sich ein Bad einlassen. Nach einem komplizierten Rezept irgendein exotisches Abendessen kochen, das für eine vierköpfige Familie reichen würde. In letzter Zeit war sie so fahrig. Mit den Nerven am Ende. Ständig sah sie sich um, war immer auf der Hut, ob nicht hinter der nächsten Ecke eine finstere Gestalt auf sie wartete. Und es wurde schlimmer. Die permanente Wachsamkeit war mental wie auch körperlich anstrengend – als lebte sie in einem Videospiel. Die Buße der Staatsanwältin: ein vertracktes Labyrinth dunkler Gassen, Kellergeschosse, verlassener Lagerhallen, leerer Gebäude, Crack-Häuser, zwielichtiger Massagestudios, verwanzter Kriechkeller. Jedes neue Level führte sie an den Tatort eines Falls, den sie einst bearbeitet hatte, wo Mörder und Psychopathen zwischen den Leichen ihrer Opfer lauerten und mit der Waffe ihrer Wahl auf Christinas Rückkehr warteten. Es war eine Nebenwirkung ihres Berufs, sagte sie sich, die zunehmende Nervosität. Im Moment war der gefährlichste Angeklagte ihrer Prozessliste aus unerklärlichen Gründen auf Kaution frei, ohne auch nur eine
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