Argus #5
können Sie noch besser mit Ihren Opfern mitfühlen. Jetzt gehören Sie offiziell dazu.
Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und holte tief Luft.
Es war Juli 1988. Eine dunkle, stürmische Gewitternacht. Sie kam nach einem Rendezvous mit ihrem Freund nach Hause. Drehte die Klimaanlage auf und ging ins Bett. Sie hörte nicht, wie er das Wohnzimmerfenster nach oben schob, wie er über den Flur schlich, die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete. Als sie aufwachte und die Augen aufriss, stand ein Monster mit Clownsmaske über ihr, das sie, die Hände in Latex-Handschuhen, mit ihrer Unterhose knebelte und sie an ihr eigenes Bett fesselte.
Es hatte keinen Sinn, die Fotos in der Verbrecherkartei durchzugehen; er trug eine Maske. Er ließ sie in einer Lache ihres eigenen Bluts zurück, ohne die kleinste Spur von sich zu hinterlassen: kein Haar, keine Faser, keinen Beweis. Tut uns leid, Chloe , hatten die Detectives vom NYPD gesagt. Für Sie gibt es heute keine Gerechtigkeit.
Chloe Joanna Larson. Das war vor langer, langer Zeit einmal ihr Name gewesen. Der Name, auf den ihre Eltern sie tauften. Der Name, den sie als Kind, in der Highschool und im College trug und den sie mitnahm, als sie ihre Heimatstadt im Norden Kaliforniens verließ, um Jura zu studieren, im großen bösen New York – einem wüsten Schmelztiegel voller Diebe, Räuber, Mörder und Vergewaltiger, behauptete ihre Mutter.
Wie sich herausstellte, hatte ihre Mutter recht.
Und als der Mann, der sie immer wieder vergewaltigte und der ihr versprach, eines Tages wiederzukommen und da weiterzumachen, wo er aufgehört hatte, der schwor, er würde sie überall finden, ganz gleich, wo sie hinging – als dieser Mann schließlich begann, sie bei der Arbeit anzurufen, da wurde sie … nun ja … verrückt. Ärzte, Anstalten, Therapien, Medikamente. In dem Sinne verrückt.
Für eine Weile.
Dann machte es irgendwann klick, und sie begriff, dass er genau das wollte. Der Mann, der zerstört hatte, was einst nach einem vielversprechenden Leben und rosiger Zukunft aussah, wollte Macht, wollte Kontrolle über sie. Er wollte, dass sie sich hinter Alarmanlagen verschanzte, dass sie die Wohnung nicht mehr verließ, niemanden mehr kennenlernte, nicht mit Männern zusammen war. Er wollte, dass sie unkontrolliert losheulte und vor Angst schlotterte, wenn sie die Narben ansah, die er mit seinem hässlichen Messer hinterlassen hatte. Chloe Joanna Larson sollte ihr Leben in der Warteschleife verbringen, bis der Mann, der sie vergewaltigt hatte, seine Drohungen wahr machte. Es trieb sie in den Wahnsinn. Und genau das wollte das Monster mit der Clownsmaske.
Also hatte sie New York verlassen. Mitten in der Nacht, ohne irgendwem davon zu erzählen. Sie packte einfach ihren Koffer und ging. Sie ging nach Florida, änderte ihren Namen, änderte ihr Berufsziel, wurde Staatsanwältin statt Arzthaftungsanwältin und beschloss, von nun an ihr Leben der Aufgabe zu widmen, Schwerverbrecher hinter Gitter zu bringen. Doch immer noch saß ihr die Angst im Nacken, sie lebte immer noch hinter Schlössern und Alarmanlagen und ließ nie jemanden herein. Ihr natürlich blondes Haar färbte sie zu einem unauffälligen Mittelbraun. Statt der Kontaktlinsen trug sie Brille. Sie schminkte sich nicht mehr. Während andere Frauen ein Vermögen für ihr Äußeres ausgaben und um jeden Preis auffallen wollten, versuchte Assistant State Attorney C. J. Townsend von der Staatsanwaltschaft Miami-Dade County, wie sie von nun an hieß, so schlicht und unsichtbar wie möglich zu sein. Sie wollte übersehen werden. Weil sie nie wusste, wo er war. Und weil sie nicht wusste, wer er war.
Bis zu dem Tag, als William Rupert Bantling plötzlich des Mordes angeklagt wurde und bei ihr vor Gericht landete.
Das Schicksal hatte einen merkwürdigen Humor. Als Bantling vor dem Richter stand und seinen Anwalt anschrie, kam plötzlich alles wieder zurück. Das war zwölf Jahre her. Zwölf Jahre waren seit der schrecklichen Nacht vergangen, die sie in ihren Albträumen immer wieder durchlebte. Die sie, wenn sie die Augen schloss, immer noch schmecken, riechen und hören konnte. In diesen zwölf Jahren hätte sie überall auf der Welt landen können, hätte irgendeinen Beruf ausüben können, anstatt als Staatsanwältin in Miami für die Cupido-Morde zuständig zu sein, und doch befand sie sich genau dort, in einem Gerichtssaal voller Kameras und Polizisten, als der Mann, der sie vergewaltigt hatte, aufstand und erklärte,
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