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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Detel
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Teile des reinen Definiens (z. B. Lebewesen, zweibeinig, vernünftig im Definiens von Mensch) eine Einheit? Die Antwort lautet: Das reine Definiens besteht aus Gattung (z. B. Lebewesen) und den Differenzen als Unterbegriffen, bis hin zur letzten Differenz, die eine bestimmte Art spezifiziert (z. B. vernünftig für die Art Mensch); und die Gattung ist potenziell genau das, was die jeweilige Art aktuell ist. Das heißt, Gattungen sind stets in Arten ontologisch realisiert. Modern formuliert: In allen möglichen Welten, in denen es beispielsweise Menschen gibt, sind Menschen Lebewesen, und zugleich gibt es keine Lebewesen, die nicht irgendeiner bestimmten Art angehören. Die Einheit des reinen Definiens – die definitorische Einheit – ist jene notwendige Einheit, die zwischen ontologischen Realisierern und den von ihnen jeweils realisierten Strukturen auf der Ebene von essenziellen Strukturen besteht.
    Die Einheitsfrage muss jedoch auch (a) für die
hyletische Form
(das hyletische Definiens, das auch auf die Art der beteiligten Materie Bezug nimmt;
hyle
: griech. Materie) und (b) für die
individuelle Form
(das aus individuellen Materieteilen und Form zusammengesetzte Individuum) beantwortet werden. Diese Einheitsfragen sind schwieriger und werden erst [76] in Metaph. VIII explizit gestellt – in diesem Buch geht es um die »sinnliche« primäre Usia, also um die primäre Usia, die Materie enthält. Die allgemeine Antwort entspricht allerdings der Antwort auf die Einheitsfrage nach dem reinen Definiens (vgl. Metaph. VIII 6): Die Materie (individuell oder der Art nach) ist potenziell genau das, was ihre Form aktuell ist. Diese These muss genauer erläutert werden. Aber wenn sie hinreichend begründet werden kann, ist erklärt, warum der Mensch in demselben Sinne ein Lebewesen Ist, wie Sokrates ein Mensch Ist; und das soll zum Teil dadurch erläutert werden, dass eine homogene Materie (Blut, Knochen etc.) Mensch Ist.
    In der neueren Forschung wird zur Interpretation jener These zunächst auf eine Unterscheidung hingewiesen, die wir schon erwähnt haben: (a) Die horizontale Einheit einer primären sinnlichen Usia würde darin bestehen, dass es ein einheitliches identifizierbares Element gibt, das vor, während und nach der Existenz der primären Usia präsent ist – so dass es eine prozedurale Kontinuität gibt, auf die wir verweisen können, um dem Eindruck einer Entstehung der primären Usia aus dem Nichts oder ihrem Vergehen in das Nichts vorzubeugen. (b) Die vertikale Einheit einer primären sinnlichen Usia ist ihre Einheit zu jedem bestimmten Zeitpunkt, also ihre jeweilige Materie-Form-Einheit. Und das Problem besteht darin, dass horizontale Einheit und vertikale Einheit offenbar nur schwer miteinander vereinbar sind. Denn für die horizontale Einheit scheint die persistierende Materie verantwortlich zu sein, also die Materie mit einer bestimmten Form, deren Existenz sich bei allen sonstigen Veränderungen der Formen durchhält. Das gefährdet jedoch die vertikale Einheit, weil dann Materieform und essenzielle Form voneinander unabhängig zu sein scheinen. Die neueren Traditionalisten 23 , die den Materiebegriff bei Aristoteles in der traditionellen Weise auffassen, bestehen in der Tat darauf, dass die horizontale Einheit durch persistierende Materie gewährleistet werden muss. Die essenzielle Form kann der substanziellen Materie [77] im Rahmen einer metaphysischen Prädikation daher letztlich nur kontingenterweise zukommen. Das Blut und die Knochen oder die Elemente, aus denen Blut und Knochen zusammengesetzt sind und die die Materie von Sokrates bilden, bestehen dieser Vorstellung nach im Prinzip bereits vor seiner Entstehung. Und es hätte durchaus der Fall sein können, dass sich seine Menschform nicht mit dieser Materie verbunden hätte – der Indeterminist Aristoteles hält es für kontingent, dass die Eltern von Sokrates sich getroffen und Kinder gezeugt haben; das hätte auch unterbleiben können. Nur wenn eine substanzielle Materie bereits essenziell bestimmt ist (z. B. Blut, Knochen etc. durch Mensch), kann für das entstandene Kompositum gesagt werden, dass die essenzielle Form konstitutiv für das Kompositum ist. Aber sogar wenn Sokrates existiert, könnte es sein, dass er irgendwann kein Mensch mehr ist, beispielsweise als Leiche. Essenzialität beruht daher für die Traditionalisten auf einer radikalen Form von Kontingenz.
    Die Anti-Traditionalisten 24 machen jedoch zu Recht geltend, dass die

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