Aristoteles: Grundwissen Philosophie
empirisches Faktum, dass wir alle nach dem höchsten für uns erreichbaren Glück streben – natürlich nach dem wahren Glück und nicht nur nach dem scheinbaren Glück. Das Problem ist, dass die meisten von uns keine begründete Vorstellung vom wahren und höchsten Glück haben und daher auch nicht wissen können, wie wir es am besten erlangen könnten. Die antike Ethik hat das erklärte Ziel, dieses Problem zu lösen. 25
In seiner Einteilung aller Wissenschaften zeichnet Aristoteles die handelnden Wissenschaften dadurch aus, dass ihr Gegenstandsbereich die Dinge sind, die so oder auch anders sein können, dass ihr geistiger Ursprung der vernünftige Wille ist und dass ihr Ziel das rechte Handeln und die Realisierung des guten Lebens ist.
Politische Wissenschaft
, also die Theorie des Stadtstaates (der Polis), und die
Ethik
, also die Theorie des guten Lebens, sind die wichtigsten handelnden Wissenschaften – und sie sind nach Aristoteles eng aufeinander bezogen. Denn die Ethik ist Teil der politischen Wissenschaft im weitesten Sinne. Schließlich ist nicht nur das Leben in sozialen Gemeinschaften notwendig und kennzeichnend für den Menschen, sondern ein erfülltes und glückliches Leben ist auch nur in wohlgeordneten Staaten möglich. Die Polis hat daher [83] die Aufgabe, dazu beizutragen, ihre Bürger tugendhaft und glücklich zu machen. Somit ist die politische Wissenschaft die höchste Wissenschaft, die zur Durchsetzung des besten Lebens beitragen kann, und hat insofern dasselbe Ziel für die Polis, das die Ethik für jede einzelne Person verfolgt (NE I 1, 1094a–b; I 13, 1102a; II 1, 1103b).
Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von Glück (
eudaimonia)
der Polis im Ganzen. Dabei gilt ihm die Polis jedoch nicht als überindividuelle Entität, der wir sinnvollerweise Glück zusprechen könnten. Vielmehr ist sie als solche »glücklich« gerade dann, wenn es ihre Bürger sind. Ferner ist die »politische Technik« zwar eine Wissenschaft (oder »Technologie«), die von den Herrschenden benutzt und angewendet wird, aber dies ist nicht totalitaristisch zu interpretieren: Aristoteles geht nicht davon aus, dass die Herrschenden den einzelnen Bürgern vorschreiben, was sie unter einem guten Leben zu verstehen haben. Vielmehr sollte die Polis eine gerechte Verfassung haben, die es allen Bürgern ermöglicht, ein gutes und geprüftes Leben zu führen. Die »politische Technik« dient der Etablierung und Stabilisierung einer solchen Verfassung (
politeia
).
Ethik ist als Wissenschaft methodisch angeleitetes Wissen. Allerdings können wir, wie Aristoteles explizit anmerkt, in der Ethik kein exaktes Wissen erwarten, sondern müssen mit einem geringeren Grade von Bestimmtheit rechnen, der allenfalls das zumeist Vorkommende und das Grundsätzliche im Umriss zu erfassen erlaubt; und wir sollten im Wesentlichen mit der Feststellung der Fakten zufrieden sein und auf Ursachenforschung verzichten (NE I 1, 1094b; I 2, 1095a).
In einer berühmten Passage erläutert Aristoteles die Methode der Ethik: Zunächst seien die Phänomene (
phainomena
) zugrunde zu legen und die Probleme (
aporiai
) durchzugehen. Dabei sollten die anerkannten Meinungen (
endoxa
) zum Thema aufgewiesen werden – entweder von allen Denkern oder doch wenigstens von den meisten und entscheidendsten. Denn wenn nach Lösung der Probleme die anerkannten [84] Meinungen übrig blieben, dann handele es sich um einen angemessenen Aufweis (NE VII 1, 1145b 2–7; vgl. Phys. IV 4, 211a). Die
ethische Methode
besteht demnach darin, für eine bestimmte Fragestellung die unterschiedlichen, meist sogar inkompatiblen verbreiteten Meinungen durchzugehen, anhand empirischer Evidenz zu prüfen und möglichst durch eine geeignete, mit den Phänomenen vereinbare Interpretation konsistent zu machen und auf diese Weise zu plausiblen Meinungen zu gelangen. Das ist gerade, wie wir schon wissen, die dialektische Methode (im aristotelischen Sinne), die zwar nicht auf Ethik und Politik beschränkt ist, aber doch vor allem in der Ethik besonders prominent ist. 26
Allerdings dürfen wir über diesen methodischen Hinweisen nicht vergessen, dass die Ethik als Wissenschaft für Aristoteles auf eine große Anzahl differenzierter kognitiver Inhalte bezogen ist: z. B. auf die Bestimmungen der charakterlichen Vorzüge (die »Tugenden«), die Unterscheidung der verschiedenen Typen von Staatsformen, die Kennzeichen freiwilliger und unfreiwilliger Handlungen, die zentralen Motive des
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