Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Wissenschaft mit der schwierigen Frage beschäftigen, was die Freiwilligkeit von Handlungen ausmacht. Allerdings müssen wir uns davor hüten, die Freiwilligkeit von Handlungen mit der Handlungsfreiheit zu verwechseln, die auf der absoluten Willensfreiheit beruht, wie sie Kant zu beschreiben versuchte. Die Willensfreiheit, die nach Kant freies Handeln als Handeln aus Pflicht ermöglicht, ist eine Selbstbestimmung unseres Willens – ein geistiger Akt, der in der Entscheidung besteht, einer Handlungsmaxime aus dem einzigen Grund zu folgen, dass diese Maxime gerecht (also widerspruchsfrei verallgemeinerungsfähig) ist. Von diesem Hintergrund ist bei Aristoteles nicht die Rede. Er bestimmt vielmehr in einem ersten Anlauf eine freiwillige Handlung dadurch, dass – negativ formuliert – diese Handlung weder aus Zwang noch aus Unwissenheit erfolgt oder – positiv formuliert – dass der Ursprung der Handlung vollständig im Handelnden liegt und der Handelnde die relevanten Fakten rund um die Handlung kennt (NE III 3, 1111a). Die ontologische Seite der Freiwilligkeit besteht darin, dass freiwillige Handlungen, die es nach Aristoteles zweifellos gibt, nicht durch Absichten und Meinungen determiniert sind. Wenn eine Person ein Ziel verfolgt und glaubt, eine bestimmte Handlung sei förderlich oder notwendig zur Erreichung dieses [96] Ziels, und wenn sie daraufhin diese Handlung vollzieht, dann ist diese Handlung nicht durch das Streben nach dem Ziel und die Meinung über das richtige Mittel determiniert. Auch Gefühle heftiger Art machen Handlungen nicht unfreiwillig. Nur in extremen Fällen, wie sie oft in der Tragödie beschrieben werden, kann es »gemischte« Handlungen geben, die freiwillig sind, insofern der Handelnde nicht aus Unwissenheit handelt, die aber unfreiwillig sind, insofern das Handlungsmotiv die menschliche Natur übersteigt und daher nicht zurückgedrängt werden kann. Eine wichtige Konsequenz dieser ersten Bestimmung freiwilliger Handlungen ist, dass auch Kinder und Tiere freiwillig handeln können.
Diese Bestimmung der freiwilligen Handlung ist allerdings noch zu weit. Einige Vorgänge haben ihren Ursprung voll ständig in uns und können uns bekannt sein, sind jedoch offensichtlich unfreiwillig, wie z. B. unser Herzschlag; prognostisches Wissen kann unfreiwillige Vorgänge hervorrufen, etwa Schwitzen oder beschleunigten Puls; und eine Handlung mag verschiedene Eigenschaften haben, von denen nur einige bekannt sein können. So definiert Aristoteles genauer: Eine freiwillige Handlung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Ursprung der Handlung vollständig im Handelnden liegt und der Handelnde die wichtigsten Eigenschaften und Umstände der Handlung kennt, und zusätzlich dadurch, dass die Meinungen und Wünsche als psychologische Motive dazu beitragen, dass die Aktoren die Handlung vollziehen, insofern und weil sie die genannten Eigenschaften haben (NE III 3). Die Gesamtheit dieser Faktoren determiniert die Handlung jedoch nicht, d. h., macht die Handlung nicht notwendig. Freiwillige Handlungen hätten nach Aristoteles stets auch unterbleiben können.
Auch diese verbesserte Bestimmung der Freiwilligkeit lässt den Schluss zu, dass Kinder und Tiere freiwillig handeln, wenn der Wissensbegriff nicht allzu sehr strapaziert wird und u. a. die Wahrnehmung umfasst. Aristoteles möchte nun die Freiwilligkeit von Handlungen mit ethischer Verantwortung [97] als Grundlage von Lob und Tadel in Verbindung bringen: Nur wenn Handlungen freiwillig sind, können wir die Handelnden als verantwortlich betrachten und damit als Kandidaten für Lob und Tadel ansehen. Tiere und Kinder sind nach Aristoteles hingegen nicht verantwortlich für ihr Handeln. Die Verbindung zwischen freiwilligem und verantwortlichem Handeln ist hier noch nicht hergestellt.
Eine weitere Verbesserung der Theorie der Freiwilligkeit, die diesem Problem Rechnung trägt, muss nach Aristoteles über den besonderen Charakter der Handlungsmotive erreicht werden: Freiwillige Handlungen beruhen auf rationalen Entscheidungen. Eine Person hat den rationalen Wunsch, eine Handlung auszuführen, wenn sie diesen Wunsch ausbildet aufgrund einer vernünftigen Abwägung (Deliberation) über die Rolle der Handlung in ihrem Konzept von Glück oder gutem Leben. Und eine Person trifft die rationale Entscheidung, eine Handlung auszuführen, wenn sie diese Entscheidung aufgrund des rationalen Wunsches trifft, die Handlung auszuführen. Und schließlich ist eine Person
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