Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Tugenden. Wir können kein glückliches Leben führen, wenn wir unsere Tugenden nicht entwickelt und gefestigt haben. Die Lehre von den Tugenden nimmt daher in der aristotelischen [91] Ethik, und so auch in der
Nikomachischen Ethik
, einen bedeutenden Raum ein. Allerdings trifft Aristoteles zunächst einmal eine wichtige Unterscheidung zwischen Verstandestugenden (dianoetischen Tugenden) und Charaktertugenden (ethischen Tugenden). Verstandestugenden wie Auffassungsgabe oder formale Bildung sind Tugenden des Geistes, die durch Lehre entstehen; Charaktertugenden wie Großzügigkeit oder Besonnenheit sind dagegen Resultate der ethischen Erziehung und der Arbeit am Selbst und entstehen durch Gewöhnung (NE I 13, 1103a). Die aristotelische Ethik beschäftigt sich primär mit den Charaktertugenden (NE II–IV, unterbrochen durch III 1–8; zu den Verstandestugenden vgl. NE VII).
Für ein genaueres Verständnis der Charaktertugenden ist es hilfreich, sich zunächst Aristoteles’ Begriff der Gewöhnung (
ethos
) genauer anzusehen, der, formal gesehen, in der Definition der Charaktertugenden als Gattung fungiert. Die Gewöhnung ist nach Aristoteles eine Arbeit am Selbst, die auf das ethische Wissen und Handeln ausgerichtet ist und daher in ausgereifter Form ein konstitutiver Bestandteil des Glücks ist. Aristoteles betont, dass es sich um einen sozialen Lernprozess handelt (NE II 3, 1144b). Daher sind die Charaktertugenden nichts Natürliches; allerdings haben Menschen die natürliche Disposition, unter geeigneten Bedingungen einen guten Charakter auszubilden (NE II 1).
Wenn die Gewöhnung der Gattungsbegriff der Charaktertugenden ist – was ist dann ihre spezifische Differenz, mit deren Angabe die Definition der Charaktertugenden vollendet wird? Dazu gibt Aristoteles einige vorbereitende Hinweise: Die Charaktertugenden bilden eine ethische »Mitte« zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig; sie sind von einem charakteristischen Spektrum von Gefühlen auf einer Lust-Unlust-Skala begleitet; und sie werden durch die Fähigkeit, mit Lust die ethisch richtigen Entscheidungen zu wählen, charakterisiert (NE II 2; II 5–6, 1106b–1107a). Diese Aspekte müssen zusammengedacht und in der Definition der Charaktertugenden [92] als spezifische Differenz ausgedrückt werden. Typische Beispiele zeigen sofort, wie diese Verbindung zu verstehen ist. So ist etwa Tapferkeit von Gefühlen zwischen Angst und Verwegenheit begleitet, und sie ist eine Mitte zwischen Feigheit (die zu viel Angst enthält) und Tollkühnheit (die zu viel Verwegenheit enthält); Besonnenheit ist von Gefühlen unmittelbarer Lust begleitet, und sie ist eine Mitte zwischen Zügellosigkeit (die zu viel unmittelbare Lust enthält) und Stumpfheit (die zu wenig unmittelbare Lust enthält); Großzügigkeit ist von Gefühlen zwischen Freude und Unbehagen beim Geldausgeben bzw. Schenken begleitet, und sie ist eine Mitte zwischen Verschwendungssucht (mit zu viel Freude am Geldausgeben und Schenken) und Geiz (mit zu wenig Freude am Geldausgeben und Schenken).
Eine Charaktertugend besteht also in der Fähigkeit, in einem bestimmten Aktionsfeld Handlungsentscheidungen zu treffen, die das richtige Maß oder die »Mitte« aufweisen, und dieses Maß oder die »Mitte« auf die entsprechenden Gefühle und Handlungen zu übertragen: Wir wählen dann die der jeweiligen Situation ethisch angemessene Handlung und führen sie mit Freude aus. Wenn wir dagegen die richtige Handlungswahl treffen und auch entsprechend angemessen handeln, aber diese Handlung nur mit Unbehagen ausführen, weil uns unsere Gefühle eher zu einer unangemessenen Handlung drängen, sind wir willensstark. Und wenn wir die richtige Handlungswahl treffen, diese Wahl jedoch nicht realisieren und unangemessen handeln, obschon mit Unbehagen, so sind wir willensschwach. Wenn wir schließlich die falsche Handlungswahl treffen und die entsprechende unangemessene Handlung mit Freude ausführen, sind wir durch und durch schlecht. Die aristotelische Lehre von den Tugenden mit ihren drei entscheidenden Parametern Gefühle, Handlungswahl und Ausführung der Handlung führt so auf natürliche und elegante Weise zur Unterscheidung von vier allgemeinen Charakterzuständen, die wir in eine übersichtliche Tabelle eintragen können (mit CM = charakterliche Mitte):
[93]
Aristoteles plädiert mit seiner ethischen Theorie der Charaktertugenden nicht für eine emotionale und charakterliche Mäßigung in allen Lebenslagen, sondern
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