Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Kriegen versklavt werden: [113] Diese Menschen sind nicht Sklaven aufgrund ihrer ethischen oder gar biologischen Natur. Daher entsteht an dieser Stelle offenbar ein weitreichendes Problem: Wie sollen die Herrschenden ihre Herrschaft stabilisieren, wenn sie ihren Untergebenen erhebliche Kompetenzen zugestehen müssen, damit die Herrschaft für die Herrschenden selbst profitabel bleibt? Aristoteles bringt dieses Problem in vollster Klarheit auf den Punkt (Pol. I 13).
Zur Lösung dieses Problems erfanden die Griechen eine neue Wissenschaft – die Ökonomie, die Lehre von der optimalen Verwaltung des Großhaushaltes, die im Wesentlichen eine Kunst der Menschenführung ist. Aristoteles hat mit dem ersten Buch seiner
Politik
maßgeblich zu dieser Erfindung beigesteuert. 37 Er bemerkt explizit, dass sich die Ökonomie hauptsächlich mit den Menschen und ihren Beziehungen innerhalb des Großhaushaltes zu beschäftigen hat (Pol.I 3). Die allgemeine Empfehlung lautet: Indem die Herrschenden ihre Untergebenen menschlich und gerecht behandeln und sie als prinzipiell vernünftig ansehen, können sie sich am besten ihrer Loyalität versichern und ihre eigene Herrschaft erhalten. Es ist interessant und paradox zugleich, dass die umstrittene Theorie der natürlichen Herrschaft zur Erfindung der Ökonomie als einer Kunst der Menschenführung führte, deren Empfehlungen auf die Subversion jener Herrschaftsverhältnisse zielten, die als natürlich hingestellt wurden.
Aristoteles hat weitere innovative Beiträge zur Entstehung der Ökonomie als Wissenschaft geleistet – vor allem Elemente der Erwerbskunst, die seiner Auffassung nach in zwei Formen auftritt, als Hausverwaltungskunst und als Kunst des Gelderwerbs (Pol. I 8–11). Im Rahmen der Diskussion des professionellen Gelderwerbs legt Aristoteles die erste explizite Theorie des Geldes vor, dessen Funktionen er mit erstaunlicher Klarheit beschreibt. Er weist zum Beispiel darauf hin, dass das Geld unterschiedliche Waren und Dienstleistungen vergleichbar macht und auf diese Weise die Tauschverhältnisse einer [114] Warengesellschaft erleichtert, ja oft erst ermöglicht – eine Einsicht, die von Marx gefeiert wurde. 38
Einer verbreiteten Interpretation zufolge, die auf Hobbes zurückgeht, kann die aristotelische Erklärung der Gemeinschaftsbildung aus anthropologischen Prämissen zwar begründen, warum der Mensch ein soziales Wesen ist, nicht aber, warum er auch ein politisches Wesen ist. Hintergrund dieser Kritik ist eine gängige Unterscheidung zwischen Sozialem und Politischem: Sozial sind Kooperationen zum wechselseitigen Nutzen; politisch dagegen sind Formen des Zusammenlebens in Institutionen und nach Gesetzen, die eine politische Herrschaft erst legitimieren. Die aristotelische
Politik
handelt zwar auch von Gesetzen und politischen Institutionen, aber ihre zugrunde liegende Anthropologie fundiert nur soziales Handeln und soziale Kooperation; sie vermag die zentrale These, dass der Mensch ein von Natur aus politisches, staatenbildendes Wesen ist, nicht befriedigend zu begründen.
Diese Lesart greift jedoch zu kurz, denn sie versteht die aristotelische Anthropologie zu restriktiv. Man wird sicher einräumen müssen, dass Aristoteles in seiner Anthropologie hauptsächlich von sozialen Beziehungen redet. Aber zugleich behauptet er, dass die Menschen von Natur aus nach dem wirklich guten Leben streben und dass das wirklich gute Leben nur im Rahmen einer politisch organisierten Polis erreichbar ist – u. a. weil Menschen, die außerhalb der Polis leben, wie wilde Tiere sind, d. h. bewaffnet in ungerechten Verhältnissen leben und stets in kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt sind (Pol. I 2, 1253a). Das Streben nach dem wirklich guten Leben und folglich nach der Etablierung von politischen Strukturen beruht auf praktischen Vernunfteinsichten, nicht auf naturwüchsigen Einstellungen, und daher entwickeln sich nicht alle Dörfer und Clans zu einer Polis. Praktische Vernunft fußt, wie Aristoteles in seiner Ethik lehrt, ihrerseits auf einer Naturanlage. Darum kann eine anthropologisch beschreibbare natürliche Entwicklung die [115] Beteiligung praktischer Vernunft einschließen. Insbesondere rechnet Aristoteles damit, dass in vielen Fällen einzelne Gesetzgeber offensichtlich aufgrund deliberativer Entscheidungen Stadtstaaten ins Leben gerufen haben. Eine Anthropologie in diesem weiten Sinne kann somit sehr wohl erklären, dass Menschen nicht nur soziale, sondern auch
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