Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
vernunftbegabte und vernunftlose, überall und in allen Lebensphasen den Schmerz zu meiden suchen und nach Lust streben, die doch dann etwas Gutes sei. Er teilt aber nicht die Auffassung, dass die Lust demzufolge das oberste Gut sein müsse. Die um ihrer selbst willen erstrebte Lust kann in Zügellosigkeit und Unersättlichkeit und damit in das Gegenteil von Lust umschlagen. Mit der Verwirklichung der ethischen Tugend schleicht sich die Lust ganz natürlich ein – als «List der Lust»[ 30 ] – und ihr Wert bemisst sich nach dem Wert der Handlung. Dass alle ethisch relevanten Handlungen mit Lust (bzw. Freude) und Unlust verbunden sind, stand für Aristoteles von Anfang an fest (II 2, 1104 b 8). Wer wirklich großzügig oder gerecht im konkreten Handeln ist, handelt mit Freude, und insofern ist Lust die Vollendung des Tätig-Seins und damit ein positiver Wert.
F REUNDSCHAFT
Auch bei diesem Thema ist die Verbindung zur Leitidee der aristotelischen Ethik evident. Glücklich in vollem Sinne kann nur sein, wer Freunde hat. Dass Freundschaft für Aristoteles wohl auch persönlich einen hohen Stellenwert hat, ergibt sich schon aus dem Umfang der Darstellung. Zwei Bücher der Nikomachischen Ethik (VIII und IX) sind der Freundschaft gewidmet,[ 31 ] die gleich eingangs hymnisch gepriesen wird:
Ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße: gerade auch den reichen Leuten und denen, die Amt und Herrschaft haben, tun Freunde bekanntlich ganz besonders not. Denn wozu ist solcher Wohlstand nütze, wenn die Möglichkeit des Wohltuns genommen ist, das doch vor allem und in seiner preiswürdigsten Form dem Freunde gegenüber sich entfaltet? Oder wie ließe der Wohlstand sich behüten und bewahren ohne Freunde? Je größer er ist, desto gefährdeter ist er. Und in Armut und sonstigem Missgeschick gelten Freunde als die einzige Zuflucht. Freundschaft ist Hilfe: den Jüngling bewahrt sie vor Irrtum, dem Alter bietet sie Pflege und Ersatz für die aus Schwäche abnehmende Leistung, den Mann auf der Höhe des Lebens spornt sie zu edlen Taten an: «Zwei miteinander voran» (Homer, Ilias 10, 224): dann gewinnt das Erkennen wie das Handeln an Kraft (VIII 1, 1155 a 5–16).
Mögen wir in diesen Worten ein persönliches Bekenntnis zum Wert der Freundschaft erblicken, so muss andererseits festgehalten werden, dass das Thema Freundschaft Gegenstand vielfältiger akademischer Diskussionen gewesen ist. Speusipp, Xenokrates, Philipp von Opus (4. Jh. v. Chr., der Autor des pseudoplatonischen Epinomis) und später Theophrast haben Schriften mit dem Titel Über die Freundschaft verfasst. Auch der platonische Dialog Lysis steht im Hintergrund, in dem in schwer zu überblickender Gedankenführung und aporetischem Schluss die Fragen diskutiert werden, ob es unter Ungleichen Freundschaft geben kann (was verneint wird) oder ob es im Grunde nur eine Form der Freundschaft geben kann, die sich auf ein metaphysisch verankertes «erstes Liebes»bezieht.
Bei all diesen Diskussionen ist zu beachten, dass die Bedeutung der griechischen Wörter «philos» und «philia» weiter reicht als unsere Wörter «Freund» und «Freundschaft». Zum einen ist der Übergang zwischen Freundschaft und Liebe fließend. Freundschaft ist die mildere Form von Liebe oder, wie Aristoteles selber sagt, Liebe ist eine «Übersteigerung der Freundschaft» (VIII 7, 1158 a 12). Zum anderen schließt das griechische Wort «philia» auch die Verwandtschaft ein. Es ist ja ein sehr sympathischer Gedanke, dass man mit einigen Verwandten «befreundet» ist, mit anderen weniger.
Wie stets bei derartigen Diskussionen steht am Anfang eine Prüfung der bereits vorhandenen Meinungen zum Thema. Zunächst grenzt Aristoteles wiederum die nicht zum menschlichen Handeln gehörigen Naturphänomene aus. Dass nach Empedokles (ca. 483 – ca. 423) sich alles kosmische Geschehen aus dem Gegeneinander von Liebe und Hass ergibt, gehört für Aristoteles nicht zum Thema. «Philia» bezeichnet ein personales Nahverhältnis, das wohl gesteigert werden kann zu politischen Freundschaften, sei es in dem Sinne, dass Bande der Freundschaft politische Stabilität garantieren, sei es, dass eine Polis mit einer anderen «befreundet» ist – wir sprechen mit gewiss etwas anderer Nuancierung von «Städtepartnerschaften» –, wie es übrigens griechischer Realität entspricht und dabei in Verträgen und auf Münzen zum Ausdruck kommt. Aristoteles hat sogar eine
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