Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
eine Behandlung der theoretischen Lebensform angekündigt hatte: «Die dritte Lebensform ist die theoretische; darüber werden wir die Untersuchung später führen» (I 1, 1096 a 5).
Diese Untersuchung folgt jetzt (EN X 7–9) und darin wird dem «theoretischen Leben» der höchste Rang zuerkannt, während die praktisch-politische Lebensform ausdrücklich als «zweitrangig»X 8, 1178 a 9) bezeichnet wird. Die Argumentation geht davon aus, dass die oberste Form menschlichen Wissens, der «Geist»sich auf die obersten Erkenntnisobjekte beziehen muss. Ein solches, der Philosophie geweihtes Leben bietet größere Stetigkeit, Reinheit, Unabhängigkeit, vollendete Lust und ein hohes Maß an «Muße»Dass Denken traurig machen könnte, wie es der so anregende Kulturkritiker und Literaturwissenschaftler George Steiner durch «zehn (mögliche) Gründe» glaubhaft machen möchte,[ 33 ] wäre Aristoteles wohl nicht in den Sinn gekommen.
Jedenfalls gilt von der Philosophie, dass sie dank ihrer Reinheit und Beständigkeit wunderbare Lust gewährt und es wohlbegründet ist, dass für die Wissenden das Dasein lustvoller ist als für die Suchenden (X 7, 1177 a 19–21).
Es ist dies ein Satz, den Platon so nicht geschrieben hätte, der aber auch im Sinne eines Selbstporträts die jederzeit nachvollziehbare Lust beschreibt, die der Wissenschaftler empfindet, wenn er eine Erkenntnis gewonnen hat. Und in der Tat ist der Begriff von Philosophie, den Aristoteles hat, dem der Wissenschaft angenähert. Es geht dabei um die Erkenntnis, die «um ihrer selbst willen» (X 7, 1177 b 1) geschätzt wird, ohne Hinblick auf Zweck und Nutzen und die eben deshalb an oberster Stelle steht.
Ähnliches gilt für die «Muße» als Element des Glücks.
Denn wir arbeiten, um dann Muße zu haben, und führen Krieg, um dann in Frieden zu leben … Das Handeln im öffentlichen Bereich verträgt sich aber erfahrungsgemäß nicht mit der Muße, kriegerisches Tun schon gar nicht. Niemand wählt ja den Krieg um des Krieges willen, und niemand rüstet deshalb zum Krieg. Denn als durch und durch blutrünstig müsste der gelten, der sich Freunde zu Feinden machen wollte, damit Kampf und Blutvergießen entstehe (X 7, 1177 b 6–12).
Mögen die Argumente für den obersten Rang der «theoretischen Lebensform» unmittelbar überzeugen, so ist doch deren Verknüpfung mit der praktisch-politischen Verwirklichung der ethischen Tugenden für Aristoteles ein schwieriges Problem.[ 34 ] Für Platon war die Sache einfach und bruchlos. Man verwirklicht die Tugenden im Hinblick auf die Idee, deren Erkenntnis im ontologischen Sinne Quelle für ethisch wertvolles Handeln ist. Für Aristoteles gibt es aber keine «Idee des Guten». Das Band zwischen Ontologie und Ethik ist zerrissen und Aristoteles hat alle Mühe, die praktisch-politische Lebensform, der ja der allergrößte Teil der Ethik gewidmet ist, als nunmehr zweitrangig nicht zu stark abzuwerten. Er tut dies in einer Schichtung der drei überkommenen Lebensformen in Korrespondenz zu den drei Ebenen: Tier – Mensch – Gott. Die nur auf Lust und Genuss zielende Lebensform ist ein animalisches, auch Tieren zugängliches Dasein (I 3, 1095 b 19–22). Die praktisch-politische Lebensform ist das dem Mensch adäquate und erstrebenswerte Dasein; das theoretische, der Philosophie gewidmete Leben ist dem Menschen erreichbar, insofern «etwas Göttliches» in uns wohnt, es ist eigentlich «übermenschlich» (X 7, 1177 b 24–30). Diese höchste menschliche Fähigkeit ist eine «Überbietung der dem Menschen spezifischen Form des Glücks»[ 35 ] und entsprechend ist das Leben ausschließlich in Lust eine Unterbietung menschlicher Möglichkeiten. Es mag eine Verschränkung einzelner Elemente zwischen den drei Haupttypen geben. So ist allen drei Lebensformen eine jeweils spezifische Form der Lust eigen, es ist aber nicht so (wie von einem Teil der Forschung behauptet), dass die theoretische Lebensform alle erstrebenswerten Güter und Vortrefflichkeiten schon in sich enthielte.[ 36 ] Wohl aber wird die Grenze zwischen der praktischen und der theoretischen Lebensform durchlässig. Denn da der Mensch nicht nur aus Geist besteht, sondern eine aus Seele und Körper zusammengesetzte Natur hat, muss auch der, der sein Leben der Philosophie widmet, den rein menschlichen Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen. Er braucht nicht nur Nahrung und Gesundheit (X 9, 1179 b 33), sondern wird im Zusammenleben mit anderen seiner Verantwortung
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