Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
allgemeine Menschenliebe im Blick, die offenbar einem Naturinstinkt entspricht und z.B. erlebt werden kann, wenn in den Widrigkeiten der Fremde jeder Mensch dem anderen nahesteht und mit ihm dann nahezu befreundet ist (VIII 1, 1155 a 17–31).
Aber im Wesentlichen geht es um die Sphäre der persönlichen Freundschaft. Zu den bereits vorliegenden Diskussionen gehören insbesondere zwei Fragen, nämlich erstens ob Freundschaft zwischen allen Menschen möglich ist, auch zwischen ungleichen und minderwertigen (was Platon verneint hatte), und zweitens ob es nur eine (wie Platon meinte) oder mehrere Arten von Freundschaft gibt.
Dabei grenzt Aristoteles das Phänomen Freundschaft nicht nur gegen das kosmische Geschehen ab, sondern auch gegen Lebloses – man kann nicht mit einem Gegenstand befreundet sein – und gegen bloßes Wohlwollen, welches man gegenüber Menschen empfinden kann, die man nie gesehen hat und die gar nichts davon wissen, dass ihnen Wohlwollen entgegengebracht wird. Aristoteles unterscheidet sodann drei Arten von Freundschaft aufgrund der Motive, die Freundschaften entstehen lassen: 1. Lust, 2. Nutzen, 3. das Gute. Die Freundschaft zwischen Guten ist die wahre Freundschaft (für Platon war es die einzige), die beiden anderen Freundschaftsformen sind es nur «akzidentiell»VIII 3, 1156 a 17). Aristoteles steht damit der Auffassung Platons durchaus nahe, nur will er den beiden anderen Nahverhältnissen das Prädikat Freundschaft nicht aberkennen, aber insofern einschränken, als die Dauer der Freundschaft auf die Dauer der zugrundeliegenden Motive (Lust oder Nutzen) begrenzt wird. Aber dass es sich dabei um Freundschaften handelt, will Aristoteles im Hinblick auf einfache Erfahrungen doch gelten lassen:
Freundschaft unter jungen Menschen hat erfahrungsgemäß die Lust zum Ziel, denn die Jugend lebt der Leidenschaft und strebt vor allem nach dem für sie Lustvollen und nach dem, was sie unmittelbar reizt. Mit den zunehmenden Jahren wechselt aber, was ihnen Lust bereitet. Daher schließen sie rasch Freundschaften und machen ebenso rasch wieder ein Ende: mit der Lust wechselt die Freundschaft und bei solcher Lust ist rascher Wechsel. Jugend neigt auch sehr zur Sinnesliebe, denn sinnliche Liebe ist vorwiegend Leidenschaft und Jagd nach Lust. Daher verlieben sich die jungen Menschen – und machen rasch wieder ein Ende: das ändert sich nicht selten am gleichen Tag. Dagegen möchten sie den ganzen Tag beisammen leben, denn so verwirklicht sich für sie der Sinn der Freundschaft (VIII 3, 1156 a 31–b 6).
Die Freundschaft um des Nutzens willen kann in jeder Altersstufe entstehen – Geschäftsbeziehungen aller Art fallen darunter –, besonders aber im Alter, wo einer den anderen braucht, ohne sich unbedingt sympathisch finden zu müssen. Ganz anders die wahre Freundschaft unter Guten:
Solche Freundschaft ist natürlich selten, denn Menschen dieser Art gibt es nur wenige. Ferner braucht sie auch Zeit und gegenseitiges Vertrautwerden. Denn wie das Sprichwort sagt, lernt man sich erst kennen, wenn man den bekannten Scheffel Salz miteinander gegessen hat … Menschen, die rasch die äußeren Formen der Freundschaft bekunden, möchten zwar Freunde sein, sind es aber nicht … Der Wunsch nach Freundschaft entsteht rasch, die Freundschaft aber nicht (VIII 4, 1156 b 27–32).
Die «Guten» als Partner der wahren Freundschaft sind natürlich diejenigen, die die ethischen Tugenden verwirklichen, also die Großzügigen, Besonnenen, Gerechten usw. Insofern findet Freundschaft unter Gleichen statt und überdies sind die Komponenten Lust und Nutzen eingeschlossen (VIII 8, 1158 b 8). Darüber hinaus führt Aristoteles Formen der «Freundschaft» an (wir müssen den Begriff hier mit «Liebe» übersetzen), die auf der Dominanz des einen Partners, also auf Ungleichheit, beruhen, wie die Liebe des Vaters zum Sohn, überhaupt des Älteren zum Jüngeren, ferner des Mannes zur Frau. Die eingangs gestellte Frage, ob es Freundschaft nur unter Gleichen gibt, wird also von Aristoteles verneint.
Im weiteren Verlauf der Erörterung tritt die durch die Überlieferung vorgegebene Frage, ob es nur eine oder mehrere Formen der Freundschaft gibt, in den Hintergrund zugunsten einer Fülle von Fragen, bei denen ganz selbstverständlich Freundschaft in den verschiedensten Konstellationen als gegeben vorausgesetzt wird, so in den verschiedenen Gemeinschaftsformen zunächst des «Hauses» (im Griechischen gibt es kein Wort für «Familie»),
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