Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
von Kultgemeinschaften und im Polisverband, wobei Aristoteles unterschiedliche Freundschaftsformen für die einzelnen Verfassungstypen (Königtum, Aristokratie, Timokratie) und deren Entartungsformen (z.B. Tyrannis) zugrunde legt. In der Tyrannis gibt es nur wenig Freundschaft, in der Demokratie mehr, weil die Bürger unter dieser Verfassung gleichgestellt sind und viele Gemeinsamkeiten haben (VIII 13, 1161 b 8–10).
Zu den weiteren Themen gehören Freundschaften unter Blutsverwandten, Freundschaften, die sich aus einer Reise ergeben, bei Sport und Spiel, bei der Jagd und bei gemeinsamem Philosophieren (IX 1172 a 1–2). Ferner geht es um Abgrenzung zu bloßer Kameradschaft, von Liebe zwischen Eltern und Kindern («die Eltern haben ein tieferes Bewusstsein von dem Zusammenhang mit ihren Kindern als umgekehrt», VIII 14, 1161 b 20–22), Bedingungen für die Auflösung einer Freundschaft, Möglichkeit der «Selbstliebe», die Aristoteles zugesteht unter der Voraussetzung, dass sich darin die Freundschaft nicht erschöpft, ferner um Hilfeleistungen im Rahmen der Freundschaft.
Freundeshilfe sollte man dann erbitten, wenn sie den Freund nur wenig belastet … Umgekehrt erscheint es angebracht, den Freund dann aufzusuchen, wenn er im Unglück ist, und zwar ungerufen und mit freudiger Bereitschaft – denn zum Wesen des Freundes gehört das Wohltun und zwar besonders dann, wenn jemand in Not ist; ferner das Wohltun, wenn der andere die Hilfe gar nicht verlangt hat. Denn dies ist für beide Seiten edler und angenehmer (IX 1171 b 17–23).
Die Abhandlung über die Freundschaft gehört zu dem Schönsten, was Aristoteles geschrieben hat. Die Wärme des Tones ist vergleichbar dem Ethos des Gedichtes, das Aristoteles anlässlich der Stiftung eines Altars der personifizierten «Freundschaft» verfasst hat (vgl. S. 35), wie es doch auch «befreundete Männer» (EN I 4, 1096 a 13) waren, die die Lehre von den Ideen eingeführt haben, die von Aristoteles so stark bekämpft wird. Freundschaft steht über Schulstreit, wie denn auch hier in dem Traktat über die Freundschaft doxographischer Schematismus und Systemcharakter im Hintergrund bleiben, um der unmittelbaren Beobachtung und Erfahrung des Menschenlebens einen Raum zu geben, der dann unter Rückgriff auf die in Dichtung und Sprichwörtern kondensierte Tradition ausgefüllt wird.
Ein vergleichbarer, aber doch ganz anders orientierter Preis der Freundschaft findet sich eine Generation nach Aristoteles bei Epikur, der die Themen «Lust» und «Freundschaft» enger aneinander bindet, als es bei Aristoteles der Fall ist. Seiner Meinung nach soll die Freundschaft zur Beseitigung der Furcht und zur Erhöhung der Sicherheit beitragen, also durchaus nutzdienlich sein, wobei sich im Laufe des freundschaftlichen Verkehrs dann auch eine uneigennützige Freundschaft einstellen kann, die ihren Ausdruck in der als Freundschaftsbund konzipierten epikureischen Schule selber findet, der aber ein bloßes Surrogat einer politischen Gemeinschaft darstellt, von der sich der Mensch fernhalten soll, während für Aristoteles die Verankerung der Freundschaft im politischen Kontext unverzichtbar ist. Epikurs Freundschaftsbegriff ist ein privater und letztlich egoistischer.[ 32 ]
Brocken der aristotelischen und der hellenistischen Freundschaftstheorien erscheinen im lateinischen Gewand in dem gegen 44 v. Chr. verfassten, früher auch in unseren Gymnasien viel gelesenen Dialog Ciceros Laelius, De amicitia. Die drei Arten der Freundschaft, die wahre Freundschaft unter Guten – das alles erscheint in die römische Welt transponiert, angereichert durch Exempla aus der römischen Dichtung und Geschichte. An Kraft der Beobachtung und Intensität der gedanklichen Durchdringung bleibt jedoch die Abhandlung in der Nikomachischen Ethik unübertroffen.
D IE THEORETISCHE L EBENSFORM
Das wahre Glück des Menschen ist für Aristoteles ein anspruchsvolles Ziel. Dem, der es erringen will, wird einiges abverlangt. Er muss im Sinne des ethisch wertvollen Handelns tätig sein, und zwar kraft freiwilliger Entscheidung, mit Lust und Freude, mit abwägender Besonnenheit, unter Freunden in politischer Verantwortung. Jetzt muss er erfahren, dass es eine noch höhere Lebensform gibt als die praktisch-politische, auf die Verwirklichung der ethischen Tugenden gerichtete.
Aristoteles musste auf die theoretische Lebensform zu sprechen kommen, weil die drei Lebensformen (Lust, Praxis, Theorie) vorgegeben waren und weil er
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