Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
als bei der geläufigen Redner- und Zuhörerpsychologie geht es darum, was in der platonischen Philosophie «Seele» heißt, die bestimmte Teile mit bestimmten Funktionen hat, die man kennen muss, was aber nicht möglich ist, ohne «die Natur des Ganzen zu kennen» ( Phaidros 270 C), wobei offen bleibt, ob mit diesem Ausdruck das Weltganze oder das Ganze der Seele gemeint ist. Rhetorik wird so zur Chiffre oder zur Metapher für Philosophie und in ihrem traditionellen Sinn eigentlich aufgehoben. In einem dritten Postulat wendet sich Platon radikal und prinzipiell gegen die schriftlich fixierte Rede. Die durch die Schrift überlieferte Mitteilung ist tot, lässt sich nicht befragen, ist schutzlos dem Missverständnis und dem Missbrauch ausgeliefert. Nur als Erinnerungsstütze sei die schriftliche Abfassung zulässig. Das für die Philosophie Platons im Ganzen signifikante Problem des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit steht im Hintergrund. In der Anwendung auf die Rhetorik trifft sie deren Kern. Die Rhetorik des 4. Jahrhunderts basiert auf Schriftlichkeit. Die Reden wurden in der Regel schriftlich abgefasst, kursierten wie die (allerdings fiktive) Rede des Lysias im Phaidros und wurden förmlich publiziert. Mit diesen drei Postulaten Platons wird die Rhetorik selber zur Philosophie.
D IE K ONZEPTION
Die Rhetorik ist ein Pendant zur Dialektik; beide handeln nämlich von solchen Dingen, die zu erkennen auf gewisse Weise allen gemeinsam und nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft ist (Rhet. I 1, 1354 a 1–3). So ergibt sich, dass die Rhetorik so etwas wie ein Seitenzweig der Dialektik und der Ethik ist, welche zu Recht auch als politische Wissenschaft bezeichnet wird (Rhet. I 2, 1356 a 25–27).
Das klingt platonisch, so als wollte Aristoteles die Postulate Platons an eine philosophisch fundierte Rhetorik konkret erfüllen. Aber Aristoteles versteht unter Dialektik etwas anderes als Platon, nämlich nicht die Erkenntnis des Seienden und dessen Struktur im Bereich der Ideen, sondern das in der Topik entwickelte Verfahren des «dialektischen Syllogismus», der aus dem Vorrat an Gemeinplätzen einen Argumentationszusammenhang aufbaut, welcher im Bereiche des Wahrscheinlichen bleibt. Das Verhältnis der Rhetorik zu einer so verstandenen Dialektik bezeichnet Aristoteles mit dem Wort «antistrophos»so wie in den Chorliedern der Tragödie eine Antistrophe zur Strophe gehört, hier mit «Pendant», meist aber (etwas missverständlich) mit «Gegenstück» wiedergegeben. Die eigentliche Pointe liegt indes darin, dass es sich um eine Anspielung auf den Gorgias handelt, in dem Platon mit dem gleichen Wort die Rhetorik als Pendant, Gegenstück oder Analogie zur Kochkunst ansieht. Rhetorik in der Seele verhält sich so wie Kochkunst im Körper (465 D).[ 3 ] Die deutliche Anspielung zeigt, dass der Gorgias mit der radikalen Rhetorik-Kritik noch präsent war, als Aristoteles in der Akademie zuerst seine Rhetorik vortrug. Auch die Einbeziehung der Ethik in eine Rhetorik als «Nebengewächs» (also wie ein Teil eines Organismus in biologischer Sicht) ist durchaus platonisch, nur ist auch hier eine ganz andere Ethik gemeint als diejenige Platons mit ihrer ontologischen Verknüpfung im transzendentalen Bereich.
Zwar muss auch für Aristoteles der Redner ein das technische Regelwerk der Rhetorik übergreifendes Wissen haben, aber er muss nicht selbst Philosoph sein. Er muss die wichtigsten Themen und Probleme der Ethik und die auf ethischen Grundsätzen ruhenden Gegebenheiten des politischen Lebens kennen und sie nach dem Kriterium von Gut und Schlecht beurteilen können. Insofern grenzt sich Aristoteles auch von den rhetorischen Lehrbüchern und der rhetorischen Praxis seiner Zeit ab. Neu in der aristotelischen Konzeption ist auch die Forderung, der Redner müsse nicht nur gerecht urteilen, sondern selbst von einem bestimmten Ethos, einer ethischen Grundhaltung erfüllt sein, die der Hörer einer Rede auch bemerken und akzeptieren soll. Insofern steht Aristoteles zwischen Platon und der zeitgenössischen Rhetorik. Gegen Platon gibt er der nun einmal vorhandenen Rhetorik ihr Existenzrecht wieder, hebt sie aber auf ein über das Technische weit hinausgehendes Niveau bei gleichzeitiger Bereicherung ihrer inneren Systematik.
D IE R EDEGATTUNGEN
Das erste Buch der Rhetorik ist nach einleitenden Bemerkungen der offenbar ganz genuinen Einteilung in drei Arten der Rede und den damit gegebenen Problemen gewidmet.
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