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Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Titel: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmut Flashar
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Sache gegenüber, 3. durch die Beweismittel und Überzeugungsgründe selbst. Die Abhandlung über die Affekte (Rhet. II 2–11) gibt dem Redner Material für die Erzeugung einer bestimmten emotionalen Verfassung an die Hand. Die Affekte werden teils als Gegensatzpaare angeordnet (Zorn – Geringschätzung; Liebe – Hass; Furcht – Zuversicht; Frechheit – Schüchternheit; Dank – Undank; Mitleid – Entrüstung), teils stehen sie für sich (Neid, Eifersucht). Es handelt sich dabei nicht um die allgemeinen in der Ethik behandelten Tugenden und Untugenden, sondern um emotionale Haltungen. Sie werden jeweils definiert und in die rhetorische Praxis und Pathoserregung integriert, mit reichem Material für die praktische Ausgestaltung durch den Redner.
    Dem gleichen Ziel dienen die Darlegungen über ethische (charakterliche) Grundgegebenheiten, die der Redner zu berücksichtigen hat (Rhet. II 12–17). Dazu entwirft Aristoteles eine glänzende Psychologie der Lebensalter (II 12–14), die man in ihren nuancenreichen Differenzierungen auch für sich lesen kann, beispielsweise in der interessanten Bemerkung, dass der Körper seine Blütezeit zwischen dem dreißigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr, die Seele um das neunundvierzigste Lebensjahr erreicht (II 14, 1390 b 10–12), wobei die Altersangaben (35 und 49) als das jeweils Vielfache der heiligen Siebenzahl in einer Tradition der Einteilung von jeweils sieben Entwicklungsschritten stehen, wie wir sie zuerst bei Solon fassen können.[ 5 ] Auch die hier vorliegende Phänomenologie menschlicher Verhaltensweisen in typischen Situationen stellt kein bloßes Supplement der Ethik dar, sondern ein differenziert aufbereitetes Material für die Praxis des Redners.
    Schließlich erörtert Aristoteles diejenigen Überzeugungsgründe, die in der Rede selber liegen (Rhet. II 20–26). Er führt verschiedene Argumentationsformen an (Gebrauch von Fabeln, Sentenzen, Volksweisheiten), unter denen das «Enthymem» eine besondere Bedeutung hat. Über die Frage, was ein Enthymem ist, gibt es komplizierte Theorien.[ 6 ] Aristoteles bezeichnet es als einen «rhetorischen Beweis» (Rhet. I 1, 1355 a 6) und als «eine Art Syllogismus» (Rhet. I 1, 1355 a 8). Da es die Rhetorik mit Dingen zu tun hat, die sich auch anders verhalten können, sind die rhetorischen Prämissen nicht notwendiger Natur, sondern beziehen sich auf das «Wahrscheinliche», auf «das, was in der Regel eintritt» (Rhet. I 2, 1357 a 14ff.). Das Enthymem ist demnach die Zusammenfügung von Sätzen in Form eines Syllogismus, und zwar entweder als «beweisendes Enthymem» – im Bezug auf anerkannte Sätze – oder als «widerlegendes Enthymem» – im Bezug auf nicht anerkannte Sätze (Rhet. II 22, 1396 b 23–28). Dabei empfiehlt Aristoteles dem Redner, nicht immer die volle Form des Schlussverfahrens zu formulieren, sondern um einer besseren Wirkung des Enthymems willen sich mit der Anführung der Prämissen zu begnügen und es dem Hörer zu überlassen, den Schluss auf den vorliegenden Einzelfall zu ziehen oder gelegentlich auch eine der Prämissen wegzulassen. Bei alledem muss der Redner zuallererst ein Faktenwissen haben, aus dem man das Enthymem überhaupt bilden kann. Wenn man den Athenern raten will, Krieg zu führen, muss man zunächst die einschlägigen Fakten (Stärke der Seemacht, Verbündete) kennen, aus denen man wie mit Bausteinen das Enthymem und damit das Überzeugungsmittel in der Rede zusammensetzen kann (Rhet. II 22, 1391 a 4–23). Einen solchen Baustein als «Element» des Enthymems nennt Aristoteles im Rückgriff auf die ausdrücklich erwähnte Schrift Topik (Rhet. II 22, 1396 b 4) «Topos», also einen «Ort» oder «Gemeinplatz». Im Folgenden führt Aristoteles 38 Topoi (Topen) an, und zwar 28 zur Konstruktion von beweisenden und widerlegenden Enthymemen (II 23) und 10 zur Konstruktion von nur scheinbaren Enthymemen (II 24). Er beschreibt dabei jeweils den Bereich, in dem sich ein Topos bewegt, und nennt diesen dann selber. Wenigstens ein Beispiel soll die Methode veranschaulichen: Ein Topos ergibt sich aus dem «Mehr (Eher) und dem Weniger» (Rhet. II 23, 1397 b 12), nämlich: Wenn das weniger zu Erwartende zutrifft, dann trifft auch das eher zu Erwartende zu. Das bedeutet als konkrete Folgerung: Wer seinen Vater schlägt, ist auch in der Lage, seinen Nachbarn zu schlagen. Aus der Fülle derartiger Topoi, die Aristoteles aus der Analyse der Reden seiner Zeit gewonnen haben wird, kann der

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