Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Aristoteles will damit die einseitige Orientierung an der Gerichts- bzw. Prozessrede, die er an seinen Vorgängern kritisiert (Rhet. I 1, 1354 b 22–29), sowie die mit ihr verbundene sachfremde Pathoserregung (Rhet. I 1, 1354 a 13ff.) überwinden, indem er der Gerichtsrede die Ratsrede (symbouleutische Rede) und die aus der Lobrede entwickelte Festrede (epideiktische Rede) zuordnet und ihr Verhältnis zueinander nach Ziel, Bereich, Zeitstufen und Gegenstand systematisch bestimmt.
In allen Fällen geht es um die drei Komponenten der Rhetorik: Redner, Sache, Hörer. Bei der Einzelbehandlung der verschiedenen Redearten wird eine Fülle von Material ausgebreitet und vor allem werden die erforderlichen Kenntnisse aufgeführt, über die der Redende verfügen und dann seine Argumentation aufbauen muss. Zunächst geht es um die beratende (symbouleutische) Rede (I 4–8). Ganz im Sinne der Ethik hält Aristoteles fest, dass es nicht um Naturnotwendigkeiten oder Zufälligkeiten geht, sondern um den Bereich des Gestaltbaren. Es handelt sich bei dieser Redegattung um die eigentlich politische Rede. So werden als Beratungsgegenstände politische und ökonomische Sachverhalte genannt: Finanzen, Krieg und Frieden, Fragen der Landesverteidigung, der Versorgung, Sicherheit und Gesetzgebung. In all diesen Fragen muss der Redende eine gewisse Kenntnis, aber kein detailliertes Fachwissen haben. Da es um Zu- und Abraten geht (Rhet. I 4, 1360 b 2), dieses aber nach dem Kriterium von ‹gut› und ‹schlecht› zu erfolgen hat, kommen die ethischen Grundlagen und Ziele wie Eudämonie, Tugend, äußere Güter, Reichtum, Ehre, Lust, Freundschaft, Gesundheit umrisshaft in den Blick.
Bei der Gattung der Festrede (epideiktische oder vorführende Rede) ist der Zusammenhang mit der Ethik naturgemäß noch enger gestaltet (Rhet. I 9). Da es um Lob oder Tadel geht, erhebt sich die Frage nach dem, was lobens- und tadelnswert ist. Entsprechend der Einteilung in Lob und Tadel kommen die Tugenden und ihre Gegenformen der Schlechtigkeit ins Spiel. Genannt werden: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Großgeartetheit, Großgesinntheit, Freigebigkeit, Sanftmut, Klugheit, Weisheit. All diese ethischen Werte (und ihr Gegenteil) hat der Redner zu beachten. Aus dem Umstand, dass diese Tugenden im Kontext der Rhetorik nicht als Mitte zwischen den Extremen erscheinen, wird man keine noch unvollständige Vorform einer Ethik erschließen dürfen, sondern das aristotelische Prinzip erkennen, nur so viel mitzuteilen, wie für das Thema jeweils erforderlich ist. Die Rhetorik hat es zwar auch mit ethischen Fragestellungen zu tun, ist aber keine Ethik.
Das zeigt sich auch bei der Behandlung der traditionellen Gerichtsrede (Rhet. I 10–15). Zwar wird auch hier eine Fülle ethischen Materials entfaltet, aber es ist im Thema begründet, dass dabei mehr von Unrecht als von Recht die Rede ist, denn es geht ja darum, ob jemandem Unrecht geschehen ist oder nicht. Wichtig dabei ist auch das in der Ethik behandelte Moment der Freiwilligkeit bzw. Vorsätzlichkeit. So wird hier eine umfassende Psychologie des Unrecht-Tuns und Unrecht-Leidens entwickelt, indem die Motive für ein solches Tun beschrieben werden: Gewohnheit, Habgier, Zorn, Begierde, Lust und Lustbefriedigung, die Hoffnung, verborgen oder straffrei bleiben zu können. Ebenso werden unbeabsichtigte Fehler mit einer Skala von Entschuldigungsgründen berücksichtigt, wie überhaupt die psychische Verfassung des Täters eine große Rolle spielt, so dass man in alledem «den frühesten Abriß einer Kriminalpsychologie» gesehen hat.[ 4 ]
D IE Ü BERZEUGUNGSSTRATEGIEN
Die Rede, gleich welcher Gattung, steht nicht für sich allein. Sie ist an den Redner und an den Hörer gebunden. So entwickelt Aristoteles im zweiten Buch der Rhetorik eine umfassende Redner- und Hörerpsychologie. Während Platon vom wahren Redner eine wirkliche Kenntnis der Seele und ihrer Teile fordert, erscheint der psychologische Bereich bei Aristoteles als Mittel zum Zweck innerhalb der Systematik der Überzeugungsgründe. Diese liegen 1. in der ethischen Haltung des Redners, 2. in einer bestimmten emotionalen Verfassung des Hörers, 3. in der Rede selbst, d.h. in den Argumentationsformen des Überredungsvorganges. Damit ergibt sich eine dreiteilige Beziehung: Redner – Hörer – Sache. Der Hörer lässt sich überzeugen 1. durch die Vertrauenswürdigkeit des Redners, 2. in seiner vom Redner beeinflussten emotionalen Einstellung der
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