Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
attischen Demokratie des 5. Jahrhunderts. Die unmittelbare Beteiligung des Bürgers an den politischen Entscheidungen verlangte eine neue, geschliffenere Art des Redens im Hinblick auf die Institutionen der Polis, die Volksversammlung, die Gerichtshöfe mit ihren verschiedenen Zuständigkeiten und den Rat der Fünfhundert. Das Fehlen eines Berufsbeamtentums und von Berufsrichtern, die Bestellung der Amtsinhaber zum Teil durch das Los, die Zusammensetzung der Gerichte aus Laien, das Fehlen von Anwälten, die den prozessierenden Bürger vertraten, der Umstand, dass das Gericht sich nicht nach den Plädoyers zur Beratung zurückzog, sondern sein Votum unter dem unmittelbaren Eindruck der vorangegangenen Reden abgab – das alles gab der öffentlich gesprochenen Rede ein ganz neues Gewicht. Damit ergab sich auch die Notwendigkeit einer stärkeren Differenzierung in einzelne Redetypen (Gerichtsrede, Staatsrede, Gelegenheitsrede) und einer Beachtung von Redetechniken (der richtige Beginn, Wecken von Aufmerksamkeit und Wohlwollen, Redeschmuck), woraus dann organisch aus dem Leben und Wirken des Bürgers eine Rhetorik erwuchs. Da nicht jeder Bürger ein guter Redner war, konnte man sich von einem «Rhetor» eine Rede verfertigen lassen. Es entwickelte sich so eine gewisse Professionalität, die auch in Musterreden (zu Werbezwecken) ihren Ausdruck fand. Hand in Hand damit ging die Aufstellung allgemein gültiger Regeln, die auf verschiedene Einzelfälle immer wieder angewandt werden konnten.
In diesem Sinne gelten in der antiken rhetorischen Tradition die beiden Sizilianer Korax (von Aristoteles in der Rhetorik II 14, 1402 a 17 einmal genannt) und Teisias (beide 1. Hälfte des 5. Jh.s v. Chr.) als Begründer der Rhetorik. Von beiden weiß man fast nichts; Teisias soll der Lehrer des ebenfalls aus Sizilien stammenden Gorgias gewesen sein, der als der eigentliche Schöpfer der Rhetorik als erlernbarer und tradierbarer Kunst anzusehen ist.
Mit dem Namen Gorgias verschränkt sich die Rhetorik mit der Sophistik, die sich um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen bemerkbar zu machen beginnt. In dieser schwer zu fassenden Bewegung spielt die Rede eine zentrale Rolle, aber nicht im Sinne einer geradlinigen Überzeugungsstrategie, sondern als Kunst der Eristik, der Fähigkeit «die schwächere Sache zur stärkeren zu machen» und umgekehrt. So gibt es zahlreiche Titel von uns verlorenen, nur in Fragmenten greifbaren Schriften wie Antilogien (mit der These, über jeden Gegenstand seien zwei entgegengesetzte Behauptungen möglich) und Doppelte Reden ( Dissoi Logoi ; alle Dinge sind gleichzeitig gut – schlecht, gerecht – ungerecht, wahr – falsch usw.). Gorgias selbst, der im Jahre 427 als Anführer einer Gesandtschaft seiner sizilischen Vaterstadt Leontinoi in Athen durch die Kunst seiner Rede einen überaus starken Eindruck gemacht haben soll, hat in der Ausbildung und Systematisierung der rhetorischen Mittel die Ansätze der älteren Sophistik und seiner sizilischen Vorgänger so gesteigert, dass nun eine regelrechte Rhetorik das Ergebnis war. Er soll ein (verlorenes) Handbuch der Rhetorik geschrieben haben, in dem insbesondere die Mittel der psychologischen Beeinflussung des Hörers durch den Redner dargestellt waren. An zwei erhaltenen (fiktiven) Reden ( Helena , Palamedes ) wird dies besonders deutlich. Die Rede, von Gorgias als «Werkmeisterin der Überredung» bezeichnet, wird zu einem Mittel nicht nur der Überredung und Überzeugung, sondern auch einer Verzauberung, Täuschung und Verzückung dank der Verwendung raffiniertester Klangmittel und Redefiguren; sie wird zu einem «Pharmakon», Heilmittel und Gift zugleich, und in die Sphäre des Magischen erhoben.
Diese so ausgebildete Rhetorik traf in Athen auf eine tiefe politische Krise. Als Gorgias in Athen zu wirken begann, befand sich die Stadt im Anfangsstadium des langen Peloponnesischen Krieges (431–404), an dessen Ende die völlige Niederlage Athens stand. In diese Krisensituation trat Gorgias mit seinem System der Rhetorik, dessen Regeln erfüllt waren von sophistischem Relativismus, der dazu angetan war, die traditionellen Werte der Gesellschaft in ihrer verpflichtenden Kraft zu erschüttern. Der Historiker und Zeitzeuge dieses Geschehens, Thukydides, beschreibt die durch Sprache und Rede bewirkte Umwertung der Werte: Tollkühnheit gilt als Tapferkeit, Besonnenheit als Feigheit, Tücke als Klugheit; wer sich aufbrausend ereifert, wird
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