Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Bildung, deren Inhalt in erster Linie die griechische Geistesgeschichte ist. Von da aus ist es nur ein Schritt zur Pädagogisierung einer so verstandenen, vorwiegend auf Literatur bezogenen Rhetorik. Diesen Schritt hat im 1. Jahrhundert n. Chr. Quintilian in seiner Institutio oratoria in einer Zeit vollzogen, in der durch den Untergang der römischen Republik die Rhetorik ein nur sehr beschränktes Bezugsfeld der politischen Beeinflussung hatte. So beklagt etwa gleichzeitig Tacitus in seinem bedeutenden Dialogus de oratoribus den mit dem Verlust der Freiheit (libertas) einsetzenden Verfall der Beredsamkeit.[ 11 ] Doch konnte die Rhetorik insgesamt in Rhetorenschulen, in unzähligen Handbüchern, Schul- und Übungsreden als höhere Allgemeinbildung überleben und in der frühen Neuzeit als eine der «sieben freien Künste» (septem artes liberales) eine besondere Blüte entfalten. Neben der Tradierung in unzähligen Handbüchern war die Rhetorik des Aristoteles seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in zwei verschiedenen lateinischen Übersetzungen und später natürlich auch im griechischen Original präsent, bis etwa zum Ende des 18. Jahrhunderts, stärker als in den anderen europäischen Ländern übrigens in Frankreich, dort allerdings eher in der römischen Prägung mit der Betonung des Literarischen, der Affinität von Stil und Bildung, des rhetorischen Regelwerkes als Bestandteil des Erziehungs- und Bildungssystems.
Die Skepsis gegen die Rhetorik , ja sogar ihre Missbilligung (mehr in der Theorie als in der Praxis) geht von der deutschen Philosophie des Idealismus aus, insbesondere von Kant, dessen Charakterisierung der Rhetorik als «Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen» ( Kritik der Urteilskraft , II § 53) Platons Verdikt der sophistischen Rhetorik wieder aufleben lässt.
Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts erlebt die Rhetorik in der Theoriebildung einen neuen Aufschwung, der vor allem durch die von Chaim Perelman (1912–1984) inaugurierte «Nouvelle Rhetorique» (New Rhetoric) geprägt ist. Sie ist wieder stärker an Aristoteles orientiert, insofern sie als persuasive Kommunikationsstrategie den von Aristoteles begründeten Bezug des Redners zum Hörer im Sinne der Erzielung eines Einverständnisses zwischen Redner und Hörer besonders betont. Aber sie geht (mit verwandten Erscheinungen anderer Autoren) weit über Aristoteles hinaus, weil mit dem «rhetorical turn» eine Dekonstruktion von Objektivitätsansprüchen der Geisteswissenschaften verbunden und so die Rhetorik als Durchdringungsmodell eine alle Bereiche umfassende universale Erscheinung geworden ist, während sie bei Aristoteles an die institutionell vorgegebenen Redeanlässe und -gattungen gebunden bleibt und nicht selber Philosophie zu sein beansprucht.
Daneben gibt es zahlreiche andere Entwürfe einer hermeneutisch, literaturtheoretisch, semiotisch oder politisch orientierten Rhetorik, die nicht einfach die Praxis des Redens widerspiegelt, sondern in einer «Grammatik des vernünftigen Redens» (Josef Kopperschmidt) bürgerliche Humanität erneuert, wofür vor allem das von Walter Jens im Jahre 1963 an der Universität Tübingen gegründete «Seminar für Allgemeine Rhetorik» einen Kristallisationspunkt darstellt.[ 12 ] Das alles steht Aristoteles durchaus nahe.
7.
L OGIK , S PRACHE , D IALEKTIK – A RGUMENTATIONSSTRATEGIEN
D IE G RUNDLAGEN
Die Schriften Kategorien , Hermeneutik ( De interpretatione ), Erste Analytiken ( Analytica Priora ), Zweite Analytiken ( Analytica Posteriora ), Topik und Sophistische Widerlegungen bilden eine Gruppe, die von den spätantiken Autoren an, vermutlich aber schon bei Andronikos von Rhodos, unter dem Oberbegriff «Organon» zusammengefasst worden sind. Aristoteles gebraucht das Wort «Organon» in einem sehr weiten Anwendungsbereich. Es kann das Sinnesorgan eines Lebewesens, Handwerkszeug wie die Axt, aber auch das Musikinstrument bedeuten und eben auch «Hilfsmittel» zur Gewinnung von logischen Schlüssen ( Topik I 13–18). Davon ist die Bezeichnung der logischen Schriften als «Organon» ausgegangen. Damit ist die Auffassung verbunden, diese Gruppe von Schriften sei den philosophischen Werken vorgeordnet und bilde das «Werkzeug» des wissenschaftlichen Denkens. Dies ist sicher nicht die Konzeption des Aristoteles. Werke wie Ethik , Politik und Poetik lassen sich auch ohne diese logische Vorschule verstehen. Aber indem Andronikos diese (logischen)
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