Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
(Met. V 6, 1016 b 34ff.; IX 6, 1048 a 35; XII 4–5) ist bei Aristoteles eine Proportionengleichung, so z.B.: Dynamis (Möglichkeit) ist das x, das sich zu Energeia (y) so wie der Schlafende (x 1) zum Wachenden (y 1) oder der Marmorblock (x 2) zur Bildsäule (y 2) verhält. Die Forderung lautet: «auf Grund der Analogie das Gemeinsame sehen».[ 15 ] Die Analogie ist neben der vertikal ausgerichteten ‹Identitätsrelation› auf der horizontalen Ebene ein aspektartiges Interpretationsmittel zur Erfassung des Seins, wobei beide Richtungen zwar nebeneinander stehen – die Annahme einer Entwicklung im aristotelischen Denken von der vertikalen, angeblich noch platonischen Ebene hin zur horizontalen Ebene der Analogie ist sehr problematisch –, aber nicht explizit miteinander verknüpft werden. Beide Komplexe und damit die ganze Frage nach dem Sein in allen Ausprägungen stehen im Horizont der akademischen Theorien und Diskussionen bei aller Kritik im Einzelnen.
Das wird auch deutlich in der Auffassung des Aristoteles, dass die Form und damit die Wirklichkeit früher als der Stoff und die Möglichkeit seien. Wir würden umgekehrt denken. Aus dem vorher vorhandenen Stoff wird später die Form, aus Holz ein Stuhl. Aber Aristoteles differenziert an verschiedenen Stellen seines Werkes (am ausführlichsten in Metaphysik V 11) zwischen mehreren Aspekten und Bedeutungen von «Früher» und «Später». Im Zusammenhang mit der Erörterung über «Möglichkeit» und «Wirklichkeit» führt Aristoteles die folgenden Argumente und Beispiele an (Met. IX 8–9): 1. Der Begriff (Logos) einer Sache geht dem Vermögen voraus. Man hat einen Begriff vom Haus, bevor man ein Haus bauen kann. 2. Die Fähigkeit, ein Haus zu bauen, wird aktiviert durch eine Tätigkeit und damit durch ein bestehendes Wirkliches. 3. Ein Zitherspieler besitzt das Vermögen, Zither zu spielen, weil er es durch aktives Spielen, also durch eine Tätigkeit, vorher gelernt hat. 4. Auch dem Sein nach existiert die Form vor der Möglichkeit. Der Mann als verwirklichte Form ist früher als das Kind, das das Vermögen hat, ein Mann zu werden. 5. Das Ewige ist früher als das Vergängliche. Nichts Ewiges ist nur der Möglichkeit nach ewig. Was nur möglicherweise ist, ist vergänglich. Man sieht, wie Aristoteles in der Auffassung von der Priorität der Form vor dem Stoff, der Wirklichkeit vor der Möglichkeit, mit Platon zwar übereinstimmt, dies aber durch einen anderen Bezug, auf einen konkreten, von der Welt des Sichtbaren nicht abgetrennten Substanzbegriff begründet.
Es ist für das Bewusstsein des Aristoteles von einer ‹Wertewelt› bezeichnend, dass er den Primat der Tätigkeit vor dem bloßen Vermögen auch im Kontext einer Metaphysik ethisch bewertet. Bei guten Zielen ist die Tätigkeit besser als das Vermögen, bei schlechten Zielen schlechter. Das bloße Vermögen kann zu einander entgegengesetzten Zielen führen. Der Arzt kann gesund, aber auch krank machen. Im ersteren Falle ist es besser, er tut dies auch. Hat er jedoch das Gegenteil im Sinne, ist es besser, er führt seine Fähigkeit dazu nicht aus. Beides gleichzeitig geht nicht. Hinter der nüchternen Diktion dieses Abschnittes (Met. IX 9, 1051 a 4–21) wird die ethische Relevanz der Aussage nur implizit sichtbar. Sie erinnert an den unheimlichen Satz: «Wer handeln kann, kann auch nicht handeln» (vgl. oben S. 82). Aufhorchen lassen die Worte:
Es gibt das Schlechte nicht neben den Dingen. Denn das Schlechte ist seiner Natur nach später als das Vermögen dazu. Folglich ist es klar, dass es in den von Anfang an bestehenden und ewigen Dingen nichts Schlechtes gibt, nichts Verfehltes, nichts Verdorbenes. Denn auch die Verderbnis gehört zum Schlechten (IX 9, 1051 a 17–21).
Das Böse in der Welt ist keine metaphysische Kategorie, kein ‹Schicksal›, das unabänderlich hereinbrechen würde; es ist allein an menschliches Handeln gebunden.
Das Schlusskapitel (IX 10) der Substanzbücher erhält seine besondere Bedeutung durch den darin dargelegten Wahrheitsbegriff. Genauer gesagt sind es zwei Wahrheitsbegriffe, die Aristoteles nebeneinander stellt, nämlich einmal die «Wahrheit» als Verbindung von Zusammengehörigem und Trennung von Nichtzusammengehörigem, also als Urteilswahrheit, und zweitens als denkende Erfahrung des Seins, also als Ergebnis der Aktivierung des Denkvermögens. Das Verhältnis der beiden Wahrheitsbegriffe zueinander besteht darin, dass es im ersteren Fall um eine Verbindung
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