Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Strukturmerkmale und Prinzipien von allem, was ist, und bezieht sich andererseits auf das dem Sein nach Selbständige, das (von der Sinnenwelt) «Getrennte»auf das UnveränderlicheZwischen beiden Zielsetzungen hat man in der Forschung lange Zeit einen Widerspruch gesehen. Die Konzeption, wonach die scharfe Trennung (Chorismos) der Sinnenwelt vom Bereich des Unveränderlichen, des reinen Seins, im Vordergrund steht, sei noch platonisch, sei eigentlich gar keine Metaphysik, während der Entwurf einer allgemeinen Seinswissenschaft die eigentlich aristotelische Lehre wiedergebe. Die Schwierigkeit jedoch hat Aristoteles selber gesehen:
Man könnte die Frage aufwerfen, ob die erste Philosophie allgemein ist oder sich auf ein bestimmtes Gebiet und eine einzige Wesenheit bezieht … Sie ist allgemein in dem Sinne, dass sie die Erste ist (Met. VI 1, 1026 a 23–30).
Aristoteles exemplifiziert dieses eigentümliche Verhältnis am Beispiel der Mathematik. Geometrie und Astronomie handeln jeweils von einzelnen Gebieten, Mathematik im Ganzen umfasst aber beide Gebiete. Es mag wohl sein, dass diese Begründung uns nicht ganz überzeugt, aber Aristoteles möchte beide Aspekte der Seinswissenschaft in eine «erste Philosophie» integrieren. Dies geschieht an verschiedenen Stellen der Metaphysik (IV 2; IX 1) durch die sog. Identitätsrelation (in der angelsächsischen Forschung: focal meaning), die als Beziehungs- und Ordnungsgefüge das einzelne Sein auf ein erstes Sein zurückführt, das zugleich Prinzip und Ursache für alle anderen Arten des Seins ist. Es liegt im Grunde die gleiche Struktur vor, die die Kategorienlehre bestimmt, wie denn auch der sprachliche und der sachliche Aspekt in der Seinslehre sich durchdringen. Aristoteles formuliert nicht: «Das Sein ist vielfältig», sondern: «Das Sein wird auf vielfältige Weise ausgesagt» (Met. I 9, 992 b 19; IV 2, 1003 b 32; VI 4, 1028 a 5; VII 1, 1028 a 10; XIV 2, 1089 a 7). Die Frage nach dem Sein erscheint im Horizont der Sprache.
Die «Vielfältigkeit», in der Aussagen über das Sein getroffen werden, bedeutet auch, dass es noch andere Wege zur Erfassung des Seins als die sogenannte Identitätsrelation (Reihung innerhalb der Seinsordnung) gibt, nämlich die Analogie als Einheit stiftende Instanz innerhalb der Mannigfaltigkeit des Seins und das aspektartige Interpretationsmittel, das in dem Begriffspaar «Möglichkeit» und «Wirklichkeit» steckt. Im Unterschied zur vertikalen Ausrichtung der Identitätsrelation bedeutet die Analogie eine Verknüpfung von gleichrangigen, aber verschiedenartigen Gliedern auf der horizontalen Ebene, während die Anwendung des Begriffspaares «Möglichkeit» und «Wirklichkeit» den Werdeprozess von Stoff zu Form und damit zum Sein im Sinne der Substanz anzeigt. Das aber wird näher erläutert in den sogenannten Substanzbüchern.
D IE S UBSTANZBÜCHER
( METAPHYSIK VII–IX)
Diese Bücher bilden eine in sich geschlossene Einheit und werden allgemein als «Substanzbücher» bezeichnet.[ 12 ] Sie handeln also von der «Substanz»und in immer neuen Anläufen wird die Substanz als vorrangig vor allem Anderen erwiesen. Unter Rückgriff auf die Formel: «Das Sein wird in vielfacher Weise ausgesagt» meint Aristoteles mit Substanz zunächst das konkrete Einzelding, von dem im Sinne der Kategorienlehre Aussagen gemacht werden. Er erweitert nun diesen Substanzbegriff in mehreren, sich partiell überlagernden Aspekten, und zwar in Auseinandersetzung mit anderen akademischen Lehren; Platon und Speusipp werden im siebten Buch der Metaphysik namentlich genannt (Met. VII 2, 1028 b 20; 22).
Aristoteles spricht von Substanz also in vielfacher Weise und unterscheidet dabei 1. das Wesen einer Sache, ausgedrückt in der für Wortbildungen aus substantivierten Verben für Aristoteles typischen Prägung «das, was es eigentlich ist, zu sein»2. das Allgemeine, 3. die Gattung, 4. das «Zugrundeliegende»Met. VII 3, 1028 b 33–36). Aristoteles behandelt dann aber diese Erscheinungsformen der Substanz nicht in dieser Reihenfolge, sondern wendet sich zunächst dem «Zugrundeliegenden» zu. Es ist als «Substanz» das, was über dem Wechsel der verschiedenen Eigenschaften dauerhaft bleibt, was allem anderen «zugrundeliegt», ganz im Sinne der Kategorienlehre. Die Frage ist, was übrig bleibt, wenn man alle Eigenschaften wegnimmt. Da die bloße Negation von Eigenschaften keine Substanz konstituieren kann, bleibt bei immer weiterer Reduktion die reine Materie
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