Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
prima materia. Aber diesen Gedanken verwirft Aristoteles gleich wieder («das ist unmöglich», VII 3, 1029 a 27), weil eine solche reine Materie unerkennbar wäre. So wendet er sich dem zu, was er «das, was es eigentlich ist, zu sein» (VII 4) nennt. Er meint damit den Wesenskern einer Einzelsubstanz.
Es ist die Formeiner Gattungdie dann vorliegt, wenn es als einzelnes EtwasGegenstand einer begrifflichen Definition sein kann (Met. VII 4). Die kompliziert dargestellten Konsequenzen dieses Ansatzes münden in eine nicht minder schwierige Untersuchung über das Werden (Entstehen) von Dingen (Met. VII 7–9). Aristoteles unterscheidet zunächst Werden durch natürliches Wachstum, durch künstliche Hervorbringung und durch spontanes («automatisches») Entstehen. Über den ganzen Komplex handelt Aristoteles ausführlicher in der Schrift Über Entstehen und Vergehen. Hier, in der Metaphysik, kommt es ihm auf die Entstehung der einzelnen Substanz an, bei der, sofern es sich um natürliche Werdeprozesse handelt, eine qualitative Gleichheit von Erzeuger und Erzeugtem obwalten muss. Dieses Verhältnis bringt Aristoteles durch die formelhafte Wendung: «Ein Mensch zeugt einen Menschen» (Met. VII 8, 1033 b 33; auch Met. XII 3, 1070 b 33; XIV 5, 1092 a 16; mehrfach auch in der Physik) zum Ausdruck. «Denn in der Fortpflanzung der Lebewesen einer bestimmten Art spaltet sich der allgemeine Artbegriff in immer neue Individuen dieser Art auf und verwirklicht immer so sein wahres Wesen, nämlich seine zeitlose Allgemeinheit, und zwar mit einer Konstanz, wie sie nur in der Natur Wirklichkeit wird».[ 13 ] An diesem Beispiel wird deutlich, warum Aristoteles die platonische Idee ablehnt. Die «Form»ist in der Realität gegenwärtig, in allem Lebendigen. Daher sind die «Substanzen» in der aristotelischen Konzeption keine platonischen Ideen (Met. VII 14), wohl aber «erste Ursachen des Seins» (Met. VII 17, 1041 b 27) der Einzeldinge.
Während das achte Buch der Metaphysik den sinnlich wahrnehmbaren Substanzen mit Überschneidungen und Wiederholungen früherer Darlegungen gewidmet ist, enthält das neunte Buch die bedeutende Abhandlung über «Möglichkeit»Dynamis) und «Wirklichkeit»Energeia Met. IX 1–9). Das Wort Dynamis heißt im voraristotelischen Sprachgebrauch «Kraft» und «Fähigkeit», während der Begriff «Energeia» eine vorher nicht belegte Wortschöpfung des Aristoteles ist. Mit diesem Begriffspaar hat Aristoteles ein weiteres Interpretationsmittel gewonnen, die Einheit des Seienden in seiner Mannigfaltigkeit aspektartig darzutun.
Dabei ist die «Möglichkeit» nicht als logische Modalität (im Sinne eines «Vielleicht») zu verstehen, sondern als eine ontologische Kategorie. Sie ist als das Noch-Nicht-Seiende von vornherein auf Verwirklichung angelegt; sie drängt gleichsam zur Verwirklichung und Bewegung. Jedes Werden ist eine Bewegung von dem der Möglichkeit nach Seienden zu dem der Wirklichkeit nach Seienden. Alle Werdeprozesse sind demnach zielgerichtet. Diese Zielgerichtetheit kommt auch darin zum Ausdruck, dass für «Wirklichkeit» auch Vollendetheit, «Entelechie», gesagt werden kann (Met. IX 8, 1050 a 23). «Wirklichkeit» ist dabei sowohl Verwirklichung als auch Verwirklichtsein eines zuvor nur Möglichen. Dem Begriffspaar «Möglichkeit» und «Wirklichkeit» entsprechen die Termini «Stoff», «Materie»Hyle) und «Form»Eidos). Für Aristoteles gibt es keine reine Materie unabhängig von jeder Formung.[ 14 ] Die Materie als Stoff ist immer auf Formung angelegt, sie drängt nach Formung, sie ist potentiell Form. Denn der Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit wird dadurch vollzogen, dass in einem zielgerichteten Prozess aus Stoff Form wird bzw. gemacht wird. Die vier Ursachen und Prinzipien, die für Aristoteles als etwas nicht Ableitbares Ausgangspunkt und Grundlage der Seinslehre sind, stehen in Korrespondenz zu dem Strukturschema «Möglichkeit – Wirklichkeit» und «Stoff – Form», insofern die Formursache (causa formalis) das verwirklichte Sein, die Substanz als Form, die Stoffursache (causa materialis) den im Sinne der Möglichkeit nach Formung drängenden Stoff, die wirkende Ursache (causa efficiens) den Impuls, der den Formungsprozess des Stoffes einleitet, die Zweckursache (causa finalis) der Richtungssinn, der das Ziel der Verwirklichung des Möglichen darstellt, bezeichnen.
«Möglichkeit» und «Wirklichkeit» stehen dabei in Analogie zu «Stoff» und «Form». Die Analogie
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