Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
(von verschiedenen Gliedern zu einem Satz), im zweiten Fall um Unverbundenes (Erfassung des Seins) geht. In beiden Fällen – und das ist das Beweisziel – geht es um die Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit. Nicht deshalb, weil unsere Meinung über einen Sachverhalt wahr ist, handelt es sich um einen wahren Sachverhalt, sondern weil wir einen Sachverhalt in logisch korrekter Zusammensetzung seiner Glieder benennen, sagen wir die Wahrheit. Diesen Wahrheitsbegriff hat man im Mittelalter «Übereinstimmung von Sache und Verstand» (adaequatio rei et mentis) genannt. Beim Erfassen des (unverbundenen) Seins (dem an zweiter Stelle genannten Wahrheitsbegriff also) kommt diesem die Priorität vor unserem Denkakt deshalb zu, weil es ewig besteht. Da gibt es auch keine Täuschung. Niemand kann behaupten, ein Dreieck sei kein Dreieck. Es gibt nur «Denken oder Nicht-Denken» (IX 10, 1051 b 31). Im ersten Fall handelt es sich um einen nachgeordneten, im zweiten Fall um einen übergeordneten Wahrheitsbegriff.
Der übergeordnete Wahrheitsbegriff ist der ältere. Wir fassen ihn in philosophischem Kontext zuerst im Lehrgedicht des Parmenides. Darin ist die Wahrheit das Sein als wahre Beschaffenheit des Seins selber. Ihr gegenüber steht die Welt des Scheins, der bloßen Meinung, in der wir reden und urteilen. Die Wahrheit ist die «Unverborgenheit»etymologischen Sinn) des Seins selber, wie es namentlich Heidegger neu ins Bewusstsein gebracht hat.[ 16 ] Der Begriff der Wahrheit sei, so Heidegger, in Jahrhunderten der philosophischen Tradition verdorben, indem man ihn an Sprache und Urteil, nicht an die Sache gebunden habe. Es ist das ganze Bemühen der Philosophie Heideggers, diesen ‹Verfall› rückgängig zu machen. Der ‹Verfall› beginnt nach Heidegger schon bei Platon. Zwar kennt auch Platon den Begriff «Wahrheit» als die «Unverborgenheit» oder besser: «Wirklichkeit» des Seins als Erkenntnisgegenstandes (Rep. VI 508 E),[ 17 ] aber in den Spätdialogen, insbesondere im Sophistes, wird der Wahrheitsbegriff im Kontext von Wahrheit und Falschheit als Eigenschaft von Urteilen benutzt. Also ist Aristoteles nicht der Erste, der den Wahrheitsbegriff von der strengen Bindung an das Sein gelöst hat, sondern er steht auch hier ganz in der Tradition Platons.[ 18 ] Doch wenn er dann von «Berühren» und «Benennen» der Wahrheit im Sinne der Wirklichkeit des Seins spricht (Met. IX 10, 1051 b 24), dann schließt er sich dem älteren (parmenideischen) Wahrheitsbegriff an, der auch ganz unreflektiert zugrunde liegt in der anfänglichen Ankündigung, Aristoteles wolle untersuchen, was die früheren Denker «über die Wahrheit», d.h. «über die Wirklichkeit des Seins» gesagt haben (Met. I 3, 983 b 3). Natürlich gibt es bei Aristoteles auch eine ganz umgangssprachliche Verwendung des Begriffes «Wahrheit» (ohne die Konnotation «Unverborgenheit») und schließlich die ethische Tugend der «Wahrhaftigkeit» (EN II 7, 1108 a 20), die mit demselben Wort «Aletheia» bezeichnet wird.
D ER ERSTE B EWEGER – T HEOLOGIE
( METAPHYSIK XII)
In dem programmatischen Anfangskapitel des sechsten Buches der Metaphysik hatte Aristoteles die theoretischen Wissenschaften eingeteilt in: Mathematik, Naturwissenschaft und «Theologik» (Met. VI 1, 1026 a 19). Diese betrifft «die ehrwürdigste Gattung» des Seins. Von einer Sphäre des Göttlichen ist aber im weiteren Verlauf des sechsten Buches und auch in den «Substanzbüchern» kaum die Rede. Das hängt damit zusammen, dass Aristoteles in diesen Büchern den Aspekt der Seinslehre in den Vordergrund gestellt hat, der die «erste Philosophie» als allgemeine Seinslehre betrifft.
In dem berühmt gewordenen Buch Lambda (XII) wird nun – ein einziges Mal – die göttliche Sphäre des reinen Seins im Zusammenhang dargestellt.[ 19 ] Diese ‹Theologie des Seins› hat eine enorme Wirkung entfaltet, gerade auch in der christlichen Tradition des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Dabei ist dieses Buch in großen Teilen von einem notizenhaften Stil geprägt, offenbar als Grundlage für den zusammenhängenden Lehrvortrag. Nur in dem siebenten Kapitel, in dem der Gottesbegriff eingeführt wird, spürt man in einer in den zentralen Passagen geradezu hymnischen Diktion auch einen literarischen Anspruch. Aber auch als Vortrag im Ganzen (wohl noch in der Akademie) muss diese ‹Theologie› sogleich sehr eindrucksvoll gewirkt haben.
Die Perspektive ist zunächst die der Physik,
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