Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
aristotelische Konzept kennt keinen Schöpfungsakt, keine Mathematisierung kosmischer Prinzipien und natürlich auch keine Entstehung von Zeit und Bewegung. Als einen Nachklang platonischer Formulierung kann man allenfalls das ansehen, was Aristoteles über den unbewegten Beweger als «Lebewesen» ausführt. Doch beruht auch dies ganz auf Konsequenzen des aristotelischen Ansatzes. Es mag für uns eine seltsame Vorstellung sein, dass ein immaterielles sich selbst denkendes Denken ein Lebewesen sei, dessen einzige Tätigkeit als immerwährende «Schau»das auch noch das «Lustvollste und Beste» sein soll (7, 1972 b 23). Aber Aristoteles will hier eine Analogie (mehr ist es nicht) zur höchsten menschlichen Tätigkeit, der theoretischen, d.h. auf die ewigen Objekte der Wissenschaft gerichteten «Theorie», herstellen, wie er sie im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik beschrieben hat (vgl. S. 102). Doch trägt die Analogie nur im Grundsätzlichen, nicht in allen Einzelzügen. Wir denken ja nicht – wie der unbewegte Beweger – uns selbst, sondern Objekte der «Theoria». Unser Denken ist objektbezogen, nicht reflexiv.
Hatte Aristoteles in dem berühmten siebenten Kapitel des Buches Lambda der Metaphysik die Einzigartigkeit des einen Unbewegten Bewegers dargetan, so überrascht das achte Kapitel mit der Mitteilung, dass es nicht nur einen, sondern je nach astronomischer Berechnung 47 oder 55 erste, unbewegte Beweger gibt. Dieser Befund hat zu einer lebhaften Debatte darüber geführt, ob nicht die Denkinhalte des einen unbewegten Bewegers eben diese 47 oder 55 unbewegten Beweger sind, also ebenfalls ewige, immaterielle Substanzen, die der unbewegte Beweger im Durchgang durch seine Denkinhalte dann denken würde.[ 22 ]
Auf der anderen Seite wird in den letzten Kapiteln des Buches die Einzigartigkeit des höchsten Prinzips betont; die letzten Worte sind ein Homerzitat: «Nichts Gutes ist Vielherrschaft: einer soll Herr sein» ( Ilias II 204). Ist damit die Annahme einer Vielzahl von mehreren unbewegten Bewegern vereinbar?
In dieser schwierigen und kontroversen Frage scheint mir die folgende Annahme die wahrscheinlichste zu sein: Aristoteles hat in der Akademie die Lehre des einen unbewegten Bewegers mit dem triumphierenden Schluss: «Einer muss Herrscher sein» vorgetragen. Dann haben ihm (so vermute ich) die anwesenden Astronomen gesagt: Dieses ganze Gebäude erklärt die faktischen Kreisbewegungen der Planeten nicht hinreichend. Daraufhin machte Aristoteles für die spätere schriftliche Ausarbeitung einen Nachtrag und das ist das achte Kapitel, das sich auch stilistisch vom notizenhaften Stil der anderen Kapitel des Buches unterscheidet.[ 23 ]
Das Kapitel unterbricht deutlich die Argumentation des ganzen Buches, steht aber nicht im Widerspruch zur Konzeption des einen unbewegten Bewegers. Das wird schon daran deutlich, dass Aristoteles zu Beginn die gesamte Bewegerlehre hin bis zum unbewegten Beweger kurz resümiert, um dann fortzufahren:
Wir sehen, dass es außer dem einfachen Umlauf des Himmels, der, wie wir sagen, von der ersten und unbewegten Substanz in Bewegung gehalten wird, noch andere Umläufe gibt, die der Planeten, die ewig sind … Daher muss auch jede dieser Bewegungen von einer an sich unbewegten und ewigen Substanz bewegt werden (Met. XII 8, 1073 a 28–34).
Die Lehre vom einen unbewegten Beweger wird demnach nicht ersetzt, sondern ergänzt durch die Annahme, dass es ebenso viele unbewegte Beweger geben muss wie die in Bewegung befindlichen Planetensysteme. Für die näheren Einzelheiten muss man, wie Aristoteles ausdrücklich anmerkt (1073 b 14), die Fachleute befragen. Diese Fachleute sind die renommiertesten Experten der Zeit, Eudoxos von Knidos und Kallippos. Eudoxos (ca. 400 – ca. 347), mit Platon befreundet, wenn auch nicht förmliches Akademiemitglied, von dem fast 20 Jahre jüngeren Aristoteles hoch geschätzt (vgl. S. 96), der bedeutendste Mathematiker und Astronom der Zeit, hat ein System von 27 konzentrischen Sphären entwickelt, wobei die (scheinbare) Bewegung der Planeten (einschließlich Sonne und Mond) durch die kombinierte gleichförmige Umdrehung einer Anzahl von Kugeln, insgesamt 27, erklärt wird, die in die Planeten eingelassen sind. Für die fünf Planeten nahm er je vier, für Sonne und Mond je drei Sphären an. Dabei soll jeweils die erste Sphäre den Tagesumlauf und die zweite die Jahresbahn bewirken. Die Berechnungen des Eudoxos sind in der Kombination von Empirie und
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