Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Zahlen den ontologischen Rang von Substanzen haben. Aristoteles will dabei alle denkbaren Varianten darlegen und so einen Rahmen schaff en, in den dann die vertretenen Auffassungen eingeordnet werden können.
Die Auseinandersetzung mit den mehrfach, aber immer anonym genannten «Mathematikern» (Kap. 2–3) führt zu dem Ergebnis, dass die mathematischen Gegenstände (Zahlen, geometrische Figuren, z.B. Dreiecke) weder in den Körpern sind noch «getrennt» von den Sinnendingen existieren. In unseren Körpern sind keine Zahlen oder Dreiecke; es können auch nicht zwei Körper am gleichen Ort sein.
Die Gegenstände der Mathematik existieren aber auch nicht als intelligible Substanzen. Es fehlt ihnen das Prinzip der Einheit und es ergäbe sich, wollte man sie als intelligible Substanzen ansehen, eine Häufung von Linien, Flächen usw. ohne erkennbares Prinzip. Wohl aber kann der Mathematiker – und das ist ein gravierender Unterschied – seine Objekte begrifflich so fassen, als seien sie von den Körpern getrennte Substanzen. Das Mathematische lässt sich von den Körpern «abstrahieren». Man kann z.B. an einer Mauer unter Absehung aller anderen Eigenarten der Mauer nur deren Länge in den Blick nehmen, so als hätte sie keine Breite. Man hat dies die Methode des «Wegnehmens»oder – mit einem unschönen Ausdruck – die «Qua-Theorie» genannt.[ 27 ] Das können aber andere Wissenschaften auch; als Beispiele werden (Kap. 3) Medizin, Harmonik, Optik und Mechanik genannt, die jeweils nur einen Aspekt eines Objektes aus ihrem Gegenstand ‹herausnehmen› können. Umrisshaft wird deutlich, was die Mathematik für Aristoteles bedeutet. Sie ist eine unter mehreren Wissenschaften, ohne einen darüber hinausgehenden Seinsstatus zu besitzen. Keineswegs nimmt Aristoteles damit der Mathematik ihre Würde; er hebt sie sogar besonders hervor.
Die hauptsächlichen Erscheinungsformen des Schönen sind Ordnung, Ebenmaß und Bestimmtheit. Das zeigen in höchstem Maße die mathematischen Wissenschaften. Und da dies – ich meine Ordnung und Bestimmtheit – sich als Ursache von Vielem erweist, ist klar, dass sie (die mathematischen Wissenschaften) in gewisser Weise auch von einer solchen Ursache, die als das Schöne wirkt, Aussagen machen (XIII 3, 1078 b 3–5).
Die anschließende Erörterung über die Entstehung der Ideenlehre und deren Kritik (Kap. 4–5) hat mit dem Thema «Mathematik» eigentlich nichts zu tun, wie Aristoteles selber sagt («ohne Verknüpfung mit der Natur der Zahlen», XIII 4, 1078 b 10). Dies mag ein Grund dafür sein, dass Aristoteles diesen ganzen Text nahezu wörtlich aus dem ersten Buch der Metaphysik (I 9) übernimmt, wo er seinen genuinen Platz hat. Zu den ganz kleinen Änderungen, die er jetzt vornimmt, gehört die Abwandlung der ersten in die dritte Person, wenn von den Vertretern der Ideenlehre die Rede ist («wir sagen» – «sie sagen», vgl. S. 215). Aristoteles betrachtet sich jetzt nicht mehr als Mitglied der Akademie. Er braucht aber diesen Text als Grundlage, aus der die akademische Zahlenlehre erwachsen ist, der er sich jetzt zuwendet. Dabei geht es immer um den ontologischen Rang der Zahlen, also darum, ob sie «erste Ursachen der seienden Dinge» (XIII 6, 1080 a 14) und damit von den Sinnendingen getrennt existierende Substanzen sein können, also auf einer Stufe mit den von Platon angenommenen Ideen stehen. Nach einer Übersicht über alle denkbaren Varianten (Kap. 6) erörtert Aristoteles drei zu seiner Zeit vertretene Möglichkeiten, Zahlen als selbständige Substanzen anzusehen. Dabei kommt eine wichtige Unterscheidung von zwei Arten von Zahlen ins Spiel, die Aristoteles in die Argumentation einbezieht, ohne sie voll zu erklären, weil er diese Differenzierung bei seinen Hörern und Lesern als bekannt voraussetzen konnte.
Während die Pythagoreer die Welt als aus den mathematischen Zahlen zusammengesetzt ansahen, hatte Platon (nach Aristoteles in einem späteren Stadium) die Ideenlehre mit den Zahlen in der Weise verknüpft, dass er neben den mathematischen Zahlen eine besondere Art von Zahlen vorsah, die er «Ideen-Zahlen» nannte. Sie gehen nur bis zur Zehnzahl und sind inoperabel, d.h. man kann mit ihnen keine mathematischen Operationen (Addition, Subtraktion usw.) ausführen. An der Spitze stehen die «Eins»– von Aristoteles an vielen Stellen seines Werkes diskutiert – und die «Unbestimmte Zwei»Met. XIII 7, 1081 a 15 und öfter) als Prinzipien der Einheit und der
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