Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Vielheit, allem anderen Sein sowohl der (mathematischen) Zahlen als der Ideen übergeordnet. Diese Lehre ist (für uns) in den Dialogen nicht (allenfalls in wenigen Andeutungen) greifbar, aber durch Berichte verschiedener Autoren hinreichend gesichert.[ 28 ] Dabei sind diese «Ideen-Zahlen» (der Ausdruck ist zutreffender als «Idealzahlen») von Platon zugleich als Raumgrößen gedacht, und zwar im Sinne der Zuordnung der Dimensionenfolge Monas (Punkt), Linie, Breite, Tiefe zu den Zahlen 1, 2, 3 und 4. Diese Zahlen sind untereinander wesensmäßig verschieden und gegenseitig unvereinbar. Deshalb nennt Aristoteles, in der Formulierung wohl Platon folgend, die Ideenzahlen nicht zwei, drei, vier, sondern «Zweiheit», «Dreiheit», «Vierheit» (XIII 7, 1081 b 15–24).
Aristoteles kritisiert diese Lehre scharf; er nennt sie «absurd und erdichtet» (XIII 7, 1081 b 30) und weist in komplizierten Gedankengängen ihre Widersprüchlichkeit nach. Dabei geht Aristoteles davon aus, dass die «Ideen-Zahlen» selber «Ideen» (im Sinne Platons) sind, und kommt zu dem Schluss, dass diese Art Zahlen weder inoperabel noch operabel sind.
Anschließend geht Aristoteles auf die Auffassungen von zwei anderen Denkern ein, ohne deren Namen zu nennen. Nach der ersteren gibt es keine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Zahlen, sondern nur die mathematischen Zahlen, denen aber gleichwohl eine «Eins an sich» als Seinsprinzip vorgeordnet ist (XIII 8, 1083 a 20–b 1). Es ist die Auffassung Speusipps, deren (leichte) Widerlegung nur wenige Zeilen in Anspruch nimmt. Wäre die «Eins» Prinzip, dann müsste sie inoperabel (im Sinne Platons sein) und könne nicht gleichzeitig als Anfang einer gewöhnlichen Zahlenreihe fungieren. In gewisser Weise wird Platon, der hier im ganzen Argumentationszusammenhang des 13. Buches der Metaphysik ein einziges Mal namentlich genannt ist (1083 a 32), gegen Speusipp ausgespielt.
Noch kürzer fasst sich Aristoteles bei der Erörterung einer dritten Lehre, die die «schwächste» sei (XIII 8, 1083 b 1–8). Das ist die Lehre des Xenokrates, nach der Ideen-Zahl und mathematische Zahl ohne eine übergeordnete Instanz ein und dasselbe seien. Diese Lehre müsse ganz besondere Voraussetzungen machen und würde damit die Argumentation in die Länge ziehen. Was damit gemeint ist, sagt Aristoteles nicht.[ 29 ] Er begnügt sich mit der Feststellung, dass diese Lehre die Nachteile der beiden vorangehenden vereine.
Mit XIII 9, 1086 a 22 beginnt ein neuer Lehrvortrag, der bis zum Ende des 14. Buches reicht. Die Themen sind die gleichen; es geht wiederum um die Kritik der Prinzipienlehre in ihrer Verknüpfung mit mathematischen Sachverhalten. Der Stil jedoch ist anders; die Sprache ist bildhafter und die Polemik beißender. «Die Darstellung ist durchgehend böswillig.»[ 30 ]
Bei diesen Diskussionen ist zu bedenken, dass es eigentlich nur nebenbei um Mathematik geht. Die Leitfrage ist die, ob und wie weit mathematische Gegenstände eine ontologische Relevanz haben. Daher äußert sich Aristoteles auch vorzugsweise zu den Ideen-Zahlen Platons, weniger zu dessen Auffassung über den mathematischen Bereich im herkömmlichen Sinne. Zieht man diesen in Betracht, so zeigt sich, dass die Meinungen beider Philosophen gar nicht so weit auseinander liegen. Platon hatte den Gegenständen der Mathematik eine Mittelstellung zwischen den sinnlichen Erscheinungen und den Ideen zugewiesen, weil – wie Aristoteles selber zutreffend referiert (Met. I 6, 987 b 14–18) – die mathematischen Gegenstände einerseits zeitlos gültig, dauernd vorhanden und ohne Bewegung seien und es andererseits vielerlei ähnliche Exemplare der gleichen Art gäbe. Das Mathematische erscheint so bei Platon einerseits den Ideen und andererseits den Erscheinungen zugehörig und doch von beiden Bereichen verschieden.[ 31 ] Aristoteles siedelt die Gegenstände der Mathematik ebenfalls in einem Mittelfeld an. Im Zuge der Einteilung der Wissenschaften (Met. VI 1) gehört sie zu den theoretischen Wissenschaften, die den praktischen überlegen sind. Sie ist jedoch der «ersten Philosophie» untergeordnet, weil sie sich «mit Gegenständen befasst, die zwar unbewegt sind, aber sich vielleicht doch in einem Stoff befinden» (Met. VI 1, 1026 a 14). Der Unterschied liegt in der Einbindung des mathematischen Bereichs in das philosophische Gesamtsystem. Daher nimmt für Aristoteles in einer ‹Metaphysik› die Auseinandersetzung mit den Ideen-Zahlen
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