Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Theoriebildung ein signifikantes Beispiel für seine Devise: «die Phänomene retten»Dem sehr viel jüngeren Kallippos (ca. 370–300) genügten die 27 ineinander geschachtelten Sphären des Eudoxos zu einer befriedigenden Erklärung der Himmelserscheinungen nicht. Er fügte sieben Sphären hinzu, je zwei für Sonne und Mond und je eine den übrigen Planeten. Aristoteles hat diese Modelle weiter differenziert, indem er zwischen den einzelnen Sphären zu deren Verbindung zusätzliche so genannte «rückläufige Sphären» (1074 a 12) annahm, so dass er insgesamt auf 55 Sphären kommt bzw. auf 47, falls man Sonne und Mond diesen rückläufigen Sphären nicht hinzufügen wollte. Entsprechend gibt es 47 oder 55 unbewegte Beweger insgesamt. Auch ohne die komplizierten Berechnungen im Einzelnen darzustellen (was hier viel zu weit führen würde) ist so viel klar: Diese 55 unbewegten Beweger sind deutlich unterschieden von dem einen unbewegten Beweger des Alls und diesem allem Anschein nach untergeordnet. Damit kann es kaum möglich sein, dass diese Beweger in ihrer Pluralität den Denkinhalt des einen unbewegten Bewegers ausmachen, wenn auch das Verhältnis dieser Beweger zum übergeordneten ersten Beweger aus dem Text nicht mit letzter Klarheit hervorgeht. Die Mehrzahl der Gründe spricht daher für die Annahme, dass Aristoteles mit der Konzeption vom «Denken des Denkens» einen rein reflexiven Grenzbegriff geschaffen hat, der folgerichtig aus der ganzen Konzeption des Seins hervorgeht.[ 24 ] Mit der Annahme von zusätzlichen 55 unbewegten Bewegern hat Aristoteles dann die gesamte transzendente Seinssphäre in einem physikalisch-astronomischen Beweisgang strukturiert und damit den Raum, den Platon mit der Lehre von den Ideen und den Ideenzahlen belegt hatte (darauf wird ausdrücklich am Beginn des achten Kapitels verwiesen, 1073 a 16–22), in die nachprüfbare Realität überführt. Gegenüber einer spekulativ angesetzten Dekade von Ideenzahlen (so bei Platon) beansprucht Aristoteles die Ermittlung der genauen Anzahl der transzendenten Wesenheiten unter Rückgriff auf Berechnungen von Fachwissenschaftlern.
I DEEN UND Z AHLEN – M ATHEMATIK
( METAPHYSIK XIII–XIV)
Die übrigen Bücher der Metaphysik haben nicht das gleiche Interesse bei Interpreten aus alter und neuer Zeit gefunden, weil in ihnen in mehrfachen Wiederholungen polemisch geführte interne Schuldiskussionen dominieren. Doch verdienen die beiden Schlussbücher der Metaphysik durchaus einige Aufmerksamkeit, weil darin Rang und Bedeutung der Mathematik in der Einschätzung durch Platon, seine Schüler und Aristoteles sichtbar werden.[ 25 ]
Das 13. Buch ist klar gegliedert. Nach einer Einleitung (Kap. 1) behandelt Aristoteles die mathematischen Gegenstände rein als solche (Kap. 2–3), dann die platonische Ideenlehre ohne Bezug auf die Zahlen (Kap. 4–5) und schließlich die Zahlen in ihrer Kombination mit Ideen und Prinzipien (Kap. 6–9, bis 1085 b 34). In einem Schlussteil (9, 1085 b 35–1086 a 20) werden alle vorliegenden Theorien über Zahlen als Prinzipien des Seins für falsch erklärt. Mit Kapitel 9, 1086 a 21 beginnt in teilweiser Wiederholung ein Neuansatz,[ 26 ] der zum 14. Buch überleitet, das noch einmal eine Kritik an den Theorien der Platoniker und Pythagoreer über die Prinzipien und das Mathematische enthält.
Angesichts der ungeheuren Bedeutung, die die Mathematik nicht nur für Platon, sondern für die Akademie insgesamt hatte, in der die berühmtesten Mathematiker ein und aus gingen, musste Aristoteles die mit der Mathematik gegebenen Fragen, besonders die nach dem Seinsstatus der Zahlen, nicht nur in gelegentlichen Bemerkungen, die sich in seinem Werk verstreut finden, sondern auch im Zusammenhang erörtern. Er beginnt damit – wohl auch angesichts des Ranges der Mathematik in der Akademie – sehr vorsichtig:
Wir müssen zuerst die Ansichten der anderen Denker betrachten, damit wir, falls sie etwas nicht richtig sagen, wir nicht in denselben Ansichten befangen bleiben, und, falls eine Auffassung uns und ihnen gemeinsam ist, wir uns nicht für uns allein mit der Sache abmühen. Denn man muss zufrieden sein, wenn man einiges besser, anderes nicht schlechter darlegt (Met. XIII 1, 1076 a 15–17).
Mathematik hat es mit Zahlen zu tun. Dass diese existieren, ist evident. Entsprechend geht die Diskussion nicht um die Existenz der mathematischen Gegenstände überhaupt, sondern um die Art ihrer Existenz, um die Frage also, ob
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