Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Naturprodukt, so käme es auf demselben Wege zustande, als wäre es durch Menschenhand hergestellt. Wie der Hausbau auf eine Zweckursache zurückgeht – die Absicht ein Haus zu bauen –, so sind alle Produkte natürlicher Wesen ebenfalls final strukturiert. Aristoteles führt als Beispiele Ameisen, Spinnen und Schwalben an, die ihre Netze und Nester bauen, wie es die Menschen machen würden, doch ohne dass es dazu einer rationalen Planung oder eines vorangehenden Entschlusses bedurft hätte.
Ebenso gibt es bei den Pflanzen eine Finalität, nur ist sie nicht so ausgeprägt spürbar. In allen Fällen ist die Zweckgerichtetheit schon im Samen angelegt, der zur organischen Entfaltung führt, falls keine Störfaktoren eintreten. Alle Naturprozesse verlaufen mit «Notwendigkeit». Aristoteles unterscheidet zwei Bedeutungsnuancen von «Notwendigkeit», eine «Notwendigkeit schlechthin» und eine «bedingte Notwendigkeit»Mit der «Notwendigkeit schlechthin» ist eine Naturkausalität gemeint, die Aristoteles auf den Bereich der Gestirne beschränkt, deren Umlauf nicht von weiteren Bedingungen abhängig ist. Die «bedingte Notwendigkeit» bedeutet die Unterordnung der Notwendigkeit unter ein Ziel (Telos). Jeder Werdeprozess ist zwar auf ein Material angewiesen (causa materialis), das aber ohne ein Telos nichts bewirkt. Aristoteles illustriert dies am Beispiel der Säge. Damit eine Säge wirksam werden kann, muss sie aus entsprechendem, hartem Material bestehen. Sie wirkt aber erst, wenn sie zur Erreichung eines Zieles angewendet wird. Dabei ist das Ziel ohne das Material nicht zu erreichen, aus dem allein aber ohne zielgerichtete Steuerung überhaupt nichts werden kann ( Physik II 8). Das Material ist also als Voraussetzung notwendig.[ 7 ]
B EWEGUNG
«Bewegung» ist als Grundphänomen der Natur der Schlüsselbegriff zum Verständnis der aristotelischen Physik.
Wer die Bewegung nicht kennt, kennt die Natur nicht (Phys. III 1, 200 b 15–16).
Große Teile der aristotelischen Physik handeln von den Bewegungs- und Veränderungsprozessen in der Natur, in mehrfachen Wiederholungen und in Abgrenzung gegen andere Begriffe. Wir können hier nur das Wichtigste resümieren.
Sowohl der griechische Begriff «Kinesis»wie das deutsche Wort «Bewegung» bezeichnen in allererster Linie die Ortsbewegung. In beiden Sprachen gibt es auch metaphorische Verwendungsweisen des Wortes «Bewegung», wie etwa politische Bewegung, innere Erregung usw. Spezifisch aristotelisch scheint aber die starke Ausweitung des Bewegungsbegriffes über die bloße Ortsbewegung hinaus zu sein. Denn Aristoteles schließt in diesen Begriff auch alle anderen Formen der Veränderung – also Entstehen und Vergehen, quantitative und qualitative Veränderungen wie Wachstum, Abnahme usw. – ein, so dass man verschiedentlich versucht hat, all diese Bedeutungsnuancen auch in einer adäquaten Übersetzung einzufangen. Die Übersetzung «Prozess» oder «Prozessualität» (so Hans Wagner 1967) hat sich jedoch nicht durchsetzen können, so dass es sich empfiehlt, bei «Bewegung» zu bleiben. Aristoteles brauchte jedenfalls einen einheitlichen Begriff zur Bezeichnung aller Veränderungsvorgänge, von denen wir nur einen Teil «Bewegung» zu nennen pflegen, vom einfachen Pflanzenwuchs über handwerkliche Vorgänge, unregelmäßige Bewegungen in der Atmosphäre bis hin zur Kreisbewegung der Gestirne und zum «unbewegten Beweger». Er hat sogar Phänomene des Lernens, Heilens, Reifens und Alterns als «Bewegungen» gefasst und in sein Modell von Bewegung einbezogen.
Aristoteles selber hat neben das Wort «Kinesis» gelegentlich den Begriff «Veränderung»metabole) gesetzt, um die Spannweite des Bewegungsbegriffes zu verdeutlichen (Phys. III 1, 201 a 2 und öfter). Ein relativ weit gefasster Bewegungsbegriff war auch durch die philosophische Tradition vorgeprägt, in der Aristoteles stand. Das Phänomen der Bewegung ist zum ersten Mal Gegenstand der Diskussion geworden bei Parmenides und seinen Schülern Zenon und Melissos, den sogenannten Eleaten, benannt nach dem Geburtsort von Parmenides und Zenon, der süditalischen Stadt Elea (Velia). Denn mit der Konzeption des einen, reinen Seins und der als bloßer Sinnestäuschung deklassierten Bewegung war eine provozierende Situation geschaffen, die sofort Widerspruch auslöste. Das führte dann zu den berühmt gewordenen zenonischen Paradoxien, wonach – um nur ein Beispiel zu nennen – der schnelle Läufer Achill die langsame
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