Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Schildkröte nie einholen könne, wenn diese beim Start einen geringen Vorsprung hat, den der schnelle Läufer erst erreicht hat, wenn die Schildkröte erneut ein kleines Stück vorangekommen ist. Der entgegengesetzte Augenschein sei Sinnestäuschung. Aristoteles hat sich mit diesen Paradoxien im Zusammenhang mit der Frage, ob eine gerade Strecke ins Unendliche gehen kann, auseinandergesetzt.[ 8 ] Modell für das, was «Bewegung» heißt, ist hier zunächst das zielgerichtete Durchlaufen einer Strecke. Aber da es ja um Veränderungen schlechthin geht, ist die Ortsbewegung Exempel für jede Art von Bewegung gegenüber einem unveränderlichen Sein, wie es Parmenides konzipiert hatte. Zu einer gewissen Rehabilitierung des Begriffes der Bewegung im ontologischen Kontext gelangt dann Platon im Zuge der Lockerung der rigorosen Trennung von Sein- und Nicht-Sein bei Parmenides in einer Untersuchung der drei Begriffe Sein, Stillstand und Bewegung, wie man sie in dem späten Dialog Sophistes findet (254 B – 259 C). Bewegung und Stillstand können sich nicht vermischen, aber beide vermischen sich mit dem Sein. Bewegung hat Anteil am Sein, aber auch am Nicht-Sein, ist also Sein und Nicht-Sein zugleich. So stellt es Platon dar.
Selbstverständlich hat Aristoteles einen ganz anderen Zugang zum Phänomen der Bewegung; er konnte aber in der Begrifflichkeit und in der philosophischen Diskussionslage an Platon anknüpfen, ohne allein mit der schroffen Zurückweisung von jeglicher Bewegung durch Parmenides konfrontiert gewesen zu sein.
Das Wichtigste an der aristotelischen Konzeption der Bewegung ist, dass es diese als etwas Abstraktes unabhängig von den einzelnen Dingen gar nicht gibt, sondern immer bezogen auf eine bewegte Sache (Phys. III 1, 200 b 33). Insofern ist Bewegung ein Relationsbegriff, nicht ein den Dingen übergeordneter Allgemeinbegriff. Die Bewegungsabläufe erklärt Aristoteles mit Hilfe seiner interpretatorischen Grundkonzeptionen, den einzelnen Kategorien, den vier Ursachen und vor allem dem Begriffspaar Möglichkeit und Wirklichkeit, das bei allen als «Bewegung» gefassten Änderungsprozessen zugrunde liegt. Bewegung in diesem weit gefassten Sinn heißt die Verwirklichung der Möglichkeit eines Dinges oder eines Lebewesens, das seinerseits potentiell schon Wirklichkeit ist. Am Beispiel des Hausbauens erläutert Aristoteles, dass die «Wirklichkeit» («Energeia») nicht etwa das fertige Haus ist, sondern der Vorgang des Hausbauens selbst, der «eine Art von Bewegung ist» (Phys. III 1, 201 b 14).
Neben diesen prinzipiellen Distinktionen ( Physik III 1–3) ist das ganze fünfte Buch der Physik der detaillierten Erörterung verschiedener Arten von Bewegung und Veränderung gewidmet. Es geht um das Verhältnis von Beweger und Bewegtem, um Anfangs- und Endpunkt der Bewegung, um Einheitlichkeit und Uneinheitlichkeit von Bewegungsprozessen, um Gegensätzlichkeiten von Ruhe, Beharrung und Bewegung, um natürliche und unnatürliche Aufwärts- und Abwärtsbewegungen. Insgesamt gehört der Begriff der Bewegung entsprechend seiner zentralen Bedeutung für das Weltverständnis des Aristoteles zu den am ausführlichsten diskutierten Begriffen im Bereiche von Physik und Ontologie.
D AS U NENDLICHE
Das Ergebnis der relativ umfangreichen Abhandlung über das Unendliche ( Physik III 4–8)[ 9 ] lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Es gibt für Aristoteles das Unendliche als physikalische Größe nicht. Die Ausführlichkeit der Erörterung hängt mit der philosophischen Tradition zusammen. Denn seitdem Anaximander (ca. 610–547 v. Chr.) das Apeiron (das Unbegrenzte; das Unendliche) zum Weltprinzip erklärt hatte, spielen Begriff und Sache des Unendlichen in der Philosophie eine bedeutende Rolle, sei es bei den frühen Denkern als Unendlichkeit an einem Substrat (Wasser, Luft, Feuer) oder im Sinne unendlich vieler Urbestandteile (Anaxagoras, Atomisten), sei es als selbständige Größe bei den Pythagoreen oder als Prinzip der Vielheit bei Platon. Diese Thematik war für Aristoteles nicht nur eine philosophiehistorische, sondern eine aktuelle Angelegenheit, die voller Probleme steckt.
Die Theorie des Unendlichen hat ihre Schwierigkeiten; man mag die Existenz eines Unendlichen annehmen oder nicht, sofort ergeben sich viele unangenehme Konsequenzen (Phys. III 4, 203 b 30–32).
Aristoteles lässt durchaus offen, ob es im Bereich der reinen Mathematik unendliche Größen gibt (Phys. III 5, 204 b 1); auch gesteht er
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