Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
die Möglichkeit zu, über jede angenommene Grenze hinaus zu denken. Man kann einen Menschen unendlich mal größer denken, als man selber ist. Nur existiert ein solcher Mensch nicht wirklich, sondern nur als bloße Denkmöglichkeit. Aristoteles begrenzt die Untersuchung auf die Frage, ob es das Unendliche im Bereich der Physik gibt. Da das Unendliche, wie im Falle der Bewegung, als Wesenheit für sich keine Existenz hat, geht es nur darum, ob es eine unendliche Größe als Substanz im Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Welt gibt. Diese Frage wird verneint auf dem Hintergrund der aristotelischen Grundannahmen. Jeder Körper hat seinen bestimmten Ort, hat sein Oben und Unten, ist in Bewegung oder Ruhe. All das kann auf einen unendlich großen Körper nicht zutreffen. Unendlichkeit kommt keinem Ding als Eigenschaft zu. Unsere Welt stößt auch nicht an ein unendliches Universum, weil es für Aristoteles nur eine, von der Himmelschale mit den Planeten umschlossene Welt gibt und darüber hinaus nur den «ersten Beweger», mit dem Aristoteles den Gedanken des Unendlichen nicht verknüpft.
Und doch schließt Aristoteles nicht jegliche Unendlichkeit aus. Er nimmt sie an für die Zeit, die sonst Anfang und Ende haben müsste, und für die Zahl, die bei Ausschluss von Unendlichkeit eine endliche Zahlenreihe aufweisen müsste. Ferner nimmt er die unendliche Teilbarkeit von Größen, zum Beispiel einer Linie an, wenn auch nur theoretisch, nur der Möglichkeit nach. So gibt es für ihn eine «Unendlichkeit der Möglichkeit nach» (Phys. III 6, 206 a 18). Wie Aristoteles ausdrücklich anmerkt, handelt es sich dabei um einen anderen Möglichkeitsbegriff als dem, der nach Verwirklichung drängt. Es handelt sich vielmehr hier um eine Möglichkeit, die niemals Wirklichkeit werden kann. Es gibt keinen unendlich geteilten Körper im Modus der Wirklichkeit, aber er ist der Möglichkeit nach unendlich teilbar. Die Schwierigkeit des Verständnisses liegt darin, dass Aristoteles das Begriffspaar: Möglichkeit – Wirklichkeit hier zwar ausdrücklich einführt, aber in einem anderen Sinn gebraucht als sonst. Das Unendliche als reine Möglichkeit ist das Gegenteil von dem, was man sonst als das Unendliche angesehen hat.
Es ergibt sich, dass das Unendliche (das Unbegrenzte) das Gegenteil von dem ist, als was es angesehen wird. Es ist nicht dasjenige, außerhalb dessen nichts mehr ist, sondern dasjenige, außerhalb dessen immer noch etwas ist (Phys. III 6, 207 a 1–3).
Das Unendliche ist also für Aristoteles nicht das Allumfassende, der Urgrund allen Werdens, sondern dasjenige, außerhalb dessen bei theoretisch unendlicher Teilbarkeit immer noch ein Weiteres ist, das weiter teilbar ist.
Das Ergebnis sollte nicht überschätzt werden. Es ist ein Kompromiss zwischen verschiedenen Positionen in einer lebhaften Diskussion. Und der Weg zur Infinitesimalmathematik (Algorithmen, unendliche Reihen) führt nicht von Aristoteles, sondern von dem berühmten Mathematiker Euklid (um 300 v. Chr.) über die Mathematik der Renaissance und von da weiter bis in die moderne Theorien zur Infinitesimalmathematik.
R AUM UND O RT
«Raum» ist eine physikalische Grundkategorie ersten Ranges. Die Existenz eines Raumes, in dem sich alle Dinge befinden, ist eine allgemeine Annahme, die sich bereits in vorphilosophischer Dichtung findet. Aristoteles selber zitiert Hesiod ( Theogonie 116) mit dem Satz, dass zu allererst das «Chaos» als allumfassender Raum entstanden sei (Phys. IV 1, 208 b 31). Einen selbständig existierenden Raum sahen dann die Atomisten (Leukipp, Demokrit) vor, während im Weltschöpfungsmythos des platonischen Timaios ein «Chora»genannter Raum als das Allumfassende konzipiert ist, der neben dem intellegiblen Modell der Ideen und dem sinnlich wahrnehmbaren Abbild als ein Drittes eingeführt wird, das alles aufnimmt und allem Werdenden einen Sitz bietet ( Timaios 48 E–53 C). Aristoteles kennt und zitiert diese Lehre (Phys. IV 2, 210 a 2), schiebt sie aber als inkonsequent beiseite.
Für Aristoteles gibt es einen für sich existenten Raum ebensowenig wie das Unendliche als selbstständig Existierendes. Anstelle eines allumfassenden Raumes setzt Aristoteles den «Ort» («Topos»,Gemeint ist damit der von einem Körper eingenommene ‹Platz›, der außerhalb und oberhalb der Dinge keine Existenz hat, der aber die Abgrenzung der Körper gegeneinander und deren spezifische Lage markiert. Der «Ort» ist so etwas wie ein mit einem bestimmten
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