Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Physik [ 1 ] beginnenden Analyse der Grundbegriffe der Physik sind im ersten Buch methodische Überlegungen vorangestellt, die dann in eine Auseinandersetzung mit schon vorliegenden Ansichten münden, wie es Aristoteles auch sonst zu tun pflegt. Dabei geht es durchweg um «Prinzipien, Ursachen und Elemente» (so gleich am Anfang 184 a 11) im Sinne von Letztbegründungen, wie sie auch in der Metaphysik diskutiert werden. Dass die Frage nach den Prinzipien im Rahmen einer Physik zur Sprache kommt, hängt auch damit zusammen, dass die Prinzipien der älteren Denker (vor Parmenides) ihrerseits ‹materiehaft› konzipiert sind, also in den Bereich einer Physik fallen. Aristoteles ist geradezu bestrebt, den alten Naturbegriff im Sinne des natürlichen Werdens und Veränderns wiederherzustellen, allerdings auf einer ganz neuen Ebene, eingefügt in den Kontext der aristotelischen Seinslehre im Ganzen. Es zeigt sich auch hier, dass Fragestellung und Behandlungsart durch die philosophische Tradition vorgeprägt sind. Entsprechend ist die aristotelische Physik keine Experimentalphysik. Sie ist keine Abstraktion eines durch Beobachtung gewonnenen Erfahrungsmaterials, obwohl Aristoteles vor allem im Bereiche der Biologie durchaus mit Experimenten arbeitet. Auf der anderen Seite unterscheidet sie sich von den beiden anderen theoretischen Wissenschaften, der Mathematik und der reinen Ontologie (der «ersten Philosophie» also), dadurch, dass in ihr die allgemeinen Strukturen nur insoweit betrachtet werden, als sie sich im Material zeigen.
Zu den methodischen Vorüberlegungen gehört eine von Aristoteles auch an anderen Stellen seines Werkes (zum Beispiel am Anfang der Analytica Posteriora, I 2, 71 b 34) getroffene Unterscheidung zwischen dem «uns Einsichtigen»von manchen Interpreten mit «Bekannten» übersetzt) und Deutlichen und dem «an sich Bekannten» und «Deutlichen». Wir erfassen zuerst ein konkretes Einzelding inmitten einer Mannigfaltigkeit.
Natürlicherweise geht der Weg methodisch von dem uns Einsichtigeren und Deutlicheren zu dem, was seinem Wesen nach das Deutlichere und Einsichtigere ist. Es fällt ja keineswegs das Einsichtige für uns mit dem Einsichtigen schlechthin zusammen. Daher muss man auf diese Weise von dem seinem Wesen nach noch Undeutlicheren, uns aber Deutlicherem zu dem seinem Wesen nach Deutlicheren und Einsichtigeren voranschreiten. Es ist ja das, was für uns zuerst klar und deutlich ist, in Wirklichkeit eine ungegliederte Mannigfaltigkeit. Erst später werden dann in der anschließenden Analyse die Elemente und Prinzipien fassbar (Phys. I 1, 184 a 16–23).
Aristoteles erläutert dies an dem Verhältnis von Wort und Sache.
Die gleiche Sachlage haben wir auch im Verhältnis von Wort und Begriff. Das Wort Kreis etwa bedeutet irgendwie etwas Ganzes und zwar in noch ganz unbestimmter Weise, während seine Definition eine Unterscheidung bis in die Einzelheiten bringt. Die Kinder reden ja auch zuerst alle Männer mit «Vater» und alle Frauen mit «Mutter» an. Erst später können sie die beiden Eltern in ihrer Individualität erfassen (Phys. 1, 184 a 26–b 14).
Der Weg geht also vom konkreten, noch diffusen Einzelding (ein Kreis) zum definierten Allgemeinen (der Kreis). Das Wort als solches besagt noch nichts, erst die Definition bringt die Erkenntnis. Es ist der Weg, der vom diffusen Einzelnen zum definierten Allgemeinen einerseits und vom diffusen Allgemeinen zum definierten Einzelnen andererseits führt, jeweils in unterschiedlicher Richtung beschrieben. Das hängt zusammen mit der Denkfigur des «Früher» und «Später» in jeweiligem Bezug auf «uns» oder auf das «Wesen der Sache». Sie findet ihren Ausdruck auch in der Bezeichnung der ‹Metaphysik› als einer «ersten Philosophie» (zuerst der Sache nach, «für uns» später) und in der Konzeption eines «ersten Seienden».
Der ganze weitere Verlauf des ersten Buches der Physik gilt der Frage nach den Prinzipien für das Naturgeschehen. Damit sind Fragen berührt, die ihren ontologischen Rang in der «Ersten Philosophie» haben, bei deren Diskussion in der Physik jedoch die Darstellung in der Metaphysik nicht vorausgesetzt ist. Es geht jetzt auch nicht um die Prinzipien als solche, sondern um die Erkenntnis dessen, wofür die Prinzipien sind. Wie fast immer, so gewinnt Aristoteles auch hier seine Position aus der Diskussion schon vorhandener Meinungen, also der Prinzipien der früheren Denker. Er zählt alle möglichen Alternativen
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