Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Veränderungen in der Welt der Wahrnehmungen bemerkt und in Form von Zahlen in der Zeit festhält.
Auf der anderen Seite gibt es in der Konzeption des Aristoteles die Zeit auch dann, wenn der Mensch sie nicht zählt. Aristoteles demonstriert dies anhand von Legenden über mythische Langschläfer. Sie knüpfen nach ihrem Aufwachen die dann eintretende Gegenwart unmittelbar an den zuletzt erlebten Zeitabschnitt an, indem sie die Zwischenzeit als in ihrem Bewusstsein nicht vorhanden sozusagen annullieren. Umgekehrt bleibt in wachem Zustand ein Zeitbewusstsein auch im Dunkeln und bei völligem Fehlen äußerer Eindrücke bestehen (Phys. IV 11, 218 b 21–219 a 5). Die Zeit ist zwar prinzipiell an den Menschen und sein Wahrnehmungsvermögen gebunden, nur wenn dieses vorübergehend aussetzt, fällt auch das Zeitbewusstsein aus, während die Zeit weiter existiert.
Von nicht geringer Bedeutung für die Zeittheorie des Aristoteles ist das, was er «das Jetzt»nennt ( Physik IV 11 und VI 3). Das «Jetzt» ist wiederum nur in Relation zum Menschen möglich. Es ist ein von Menschen gemachter ‹Zeitschnitt›, um in dem fließenden Kontinuum der Zeit eine Zeitphase herauszuheben. Dazu braucht man zwei durch «das Jetzt» bezeichnete Zeitschnitte, jeweils für den Anfang und für das Ende einer Zeitphase. Aristoteles nennt «das Jetzt» eine «Grenze» (Phys. IV 10, 218 a 24) zwischen dem «Früheren» und dem «Späteren», zwischen Vergangenheit und Zukunft. «Das Jetzt» bezeichnet aber nicht eine diffuse Gegenwart, sondern präzise den Schnitt, der für einen Moment die Dinge, die im Fluss der Zeit in ständigem Werden und Vergehen begriffen sind, als das, was sie sind, erfahrbar macht.[ 14 ] In diesem Sinne ist das «Jetzt» eine Phasenbegrenzung. Mit dem «Jetzt» enthält die Zeit ein unteilbares Moment. Wäre das «Jetzt» teilbar, würden Vergangenheit und Gegenwart ineinander greifen und so ineinander übergehen. Das «Jetzt» ist aber keine Zeitstrecke, sondern nur der Schnitt als Grenze. Aristoteles hebt diesen terminologisch fixierten Gebrauch des Wortes «Jetzt» von der Verwendung des Ausdrucks im allgemeinen Sprachgebrauch ab, wonach man sagt: «Er wird jetzt kommen»; «er ist jetzt gekommen» (Phys. IV 13, 222 a 22). Man verwendet hier das Wort «Jetzt» zur Bezeichnung der Nähe zu einer Zeitspanne in Vergangenheit oder Zukunft. Deshalb kann man auch nicht sagen: Der troische Krieg ist jetzt gewesen, weil die Zeit zwar ein einziges Kontinuum ist, zum troischen Krieg aber zu weit entfernt ist, als dass man «jetzt» sagen könnte.
Auf der anderen Seite besteht die Zeit nicht aus einer bloßen Reihung von dauerlosen Jetztpunkten; die Zeit wäre dann eine ruckartige Bewegungsfolge. Sie ist nicht, wie Heidegger in Bezug auf die aristotelische Lehre meint, eine «freischwebende Jetztfolge», sondern ein phasenloses Bewegungskontinuum, aus dem der Mensch Zeitabschnitte von unterschiedlichem Umfang herausheben kann. Erst dadurch wird die Zeit messbar. Die Maßeinheit für die Zeit ist die Zahl und es ist eine wesentliche Leistung der Zahl, die Zeit messen zu können. Dieser Vorgang vollzieht sich in der menschlichen Seele, die auf diese Weise der Zeit zugeordnet ist. Die Zeit ist aber nicht der Bewusstseinsinhalt der Seele, denn die Zeit ist nicht in der Seele. Der Ablauf von Bewegungsphasen als Substrat der Zeit ist von der menschlichen Seele unabhängig. Aber erst durch die Tätigkeit der abzählenden Seele wird daraus wirkliche Zeit. Die Zahl hat dabei einen ganz anderen Charakter als in der platonischen Zahlenlehre. Sie ist keine ontologische Instanz in der Stufung des Seins, sondern ein Instrument, mit dem der Mensch sich die Welt erschließt, allerdings nur die Welt der Bewegung und Veränderung, während der Bereich des Ewigen sich der Zeit entzieht. Der «unbewegte Beweger» steht außerhalb von Raum und Zeit.
Die Lehre des Aristoteles von der Zeit ist ein integraler Bestandteil seiner Bewegungsphysik und aus dieser auch nicht ohne weiteres herauslösbar. So haben Speusipp und Xenokrates zwar an dem Bezug der Zeit zur Bewegung festgehalten, aber nicht an der Subjektivierung des Zeitbegriffes mit dem Moment des Zählens in der Seele. Die hellenistische Philosophie ging ganz andere Wege; die Stoa ersetzte in der Zeittheorie den Begriff der Zahl durch den des Intervalls; Epikur stand auch in der Zeittheorie in atomistischer Tradition (die ewige Zeit setzt die Atome in Bewegung, aber nicht den Kosmos), der
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