Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Neuplatonismus begreift in der Nachfolge Platons die Zeit als Abbild der Ewigkeit. Von hier aus geht der Weg in die Zeittheorien des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Für die neuzeitlichen Zeitvorstellungen war lange Zeit normativ die Theorie Isaac Newtons (1643–1727) von der absoluten Zahl als mathematisches Gebilde ohne Bezug auf einen äußeren Gegenstand und unabhängig von jeglicher Rezeption. Das gilt auch noch für Kant, für den die «absolute, wirkliche mathematische Zeit» eine «reine Form der sinnlichen Anschauung» bedeutet. Erst die Relativitätstheorie Einsteins hat die absolut verstandene Zeit durch die Konzeption von der Veränderung der Zeitachse in Relation zum Bewegungssystem des Beobachters ins Wanken gebracht.
Bemerkenswert ist, dass zahlreiche philosophische Zeittheorien des 20. Jahrhunderts – im Unterschied zu Aristoteles – nicht auf dem Boden der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse stehen. Das gilt zum Beispiel für Heidegger, der die Zeit einerseits nur im Gegenwärtigen als Horizont des Seins vorhanden sah, sie aber andererseits in ihrer Erscheinung in der Gegenwart als nur schwaches Abbild einer Ewigkeit, einer reinen Gegenwart, verstand, womit er sich – wie auch auf anderen Gebieten – stärker an Platon als an Aristoteles annäherte.
Das Phänomen der Zeit wird im Übrigen – ganz unaristotelisch – mit Erfahrungen und Visionen in Verbindung gebracht, die sich vom physikalischen Raum ganz lösen, und als «kulturelle Zeit», «Chronopathologie» zu Grenzerfahrungen, ja sogar zu einer Negativität der Zeiterfahrung (Gadamer) bis hin zu zeitlich fixierten Schreckensutopien (George Orwell) führen.[ 15 ]
K ONTINUUM
Während das fünfte Buch der Physik noch einmal von den verschiedenen Arten der Bewegung und Veränderung handelt (wir dürfen die Einzelheiten jetzt übergehen), ist das ganze sechste Buch dem Kontinuumgewidmet. Aber auch dieser Begriff war schon vorbereitend geklärt worden und hängt aufs engste mit den Vorstellungen des Aristoteles von Zeit und insbesondere Bewegung zusammen. Der die ganze Debatte beherrschende Aspekt ist der der Teilbarkeit. Damit rührt Aristoteles an eine Thematik, die offenbar zu seiner Zeit lebhaft diskutiert wurde. Das zeigt auch eine unter dem Namen des Aristoteles überlieferte, aber sicher nicht von ihm selbst stammende Schrift Über unteilbare Linien, die sich durch eine ungewöhnlich scharfe Polemik auszeichnet. In der Tat gibt es mehrere philosophische Strömungen, gegen die sich Aristoteles in der Physik wendet. «Die Lehre von den ‹Atom-Linien› scheint in der platonischen Schule eine erhebliche Rolle gespielt zu haben; besonders Xenokrates hat nach Platon diese Theorie vertreten.»[ 16 ] Sie ist aber zunächst in der platonischen Ontologie im Zusammenhang mit der sogenannten Dimensionenfolge verankert, wonach Linien und Flächen als nicht kommensurabel und daher unteilbar angesehen werden, da diese Größen wesensmäßig verschieden sind. Ebenso geht, wenn auch auf ganz anderer Ebene, die Lehre der Atomisten – wie schon der Name sagt – von der Unteilbarkeit kleinster Einheiten, eben der Atome, aus. Schließlich setzt sich Aristoteles mit den sogenannten zenonischen Paradoxien in einer Ausführlichkeit auseinander, die auch diese Diskussion als nach hundert Jahren noch aktuell erscheinen lässt. Die Auflösung dieser Paradoxien war offenbar noch für Aristoteles schwierig.
Vier Argumentationen hinsichtlich der Bewegung hat Zenon aufgestellt, die denjenigen, die sie auflösen wollen, wirklich Bauchschmerzenbereiten (Phys. VI 9, 239 b 9–11).
Die Widerlegung durch Aristoteles ist in der Tat so kompliziert formuliert, dass Hans Wagner in seinem repräsentativen Kommentar (1967, 639) bemerkt: «Viele und große Interpretationskunst von Anfang bis heute ist an diesen Abschnitt gewendet worden und doch ist nichts wirklich und allseits Befriedigendes dabei erzielt worden. Was mich angeht, so strecke ich nach dem Studium fremder Versuche und nach eigenen Versuchen rundweg die Waffen.» Nur wenige Bemerkungen müssen hier genügen. Die vier Argumente Zenons, die Aristoteles widerlegt, sind:
1. Der Läufer. Er kann das Ende einer Strecke in begrenzter Zeit nicht erreichen, da er bei einer Zweiteilung der Gesamtstrecke zunächst das Ende der ersten Teilstrecke, die Mitte also, erreichen muss. Dazu müsste er zuvor die Hälfte der Teilstrecke und dann die Hälfte der halbierten Teilstrecke usw. erreichen.
Weitere Kostenlose Bücher