Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Gesichtern bis zum wuchtigen Dachgiebel hinauf.
Alessandro Carnevare stand vor dem Portal und nahm Beileidsbekundungen entgegen. Sein schwarzer Anzug saß wie angegossen. Sein Haar war gekämmt, aber viel geholfen hatte das nicht; es war noch immer struppig und zerzaust, anders als die zurückgegelten Frisuren seiner Verwandten.
Auf den letzten zwanzig Metern bis zur Grabkapelle kamen sie nur langsam voran. Die Menschenmenge staute sich. Dunkle, verschlossene Gesichter. Da und dort wieder feindselige Blicke in ihre Richtung. Feine Herrschaften, aber auch eine Menge grobschlächtiger Visagen, die oberhalb der teuren Designeranzüge deplatziert wirkten.
Alessandro schüttelte allen die Hände, oft beidhändig, als ginge es um ein Verbrüderungsritual, nicht um Mitgefühl.
»Der Baron war hoch angesehen«, flüsterte Zoe so leise, dass Rosa die Worte kaum verstehen konnte. »Das da ist sein Sohn. Alessandro Carnevare.«
Rosa nickte, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Zoe beugte sich noch näher an ihr Ohr. »In ein paar Wochen soll er die Nachfolge seines Vaters antreten. Falls ihm bis dahin nichts zustößt.«
»Ach?« Sie ballte die Faust.
»Der Mann da, neben ihm.« Zoe deutete kaum merklich nach vorn. »Cesare Carnevare. Der Cousin des verstorbenen Barons und sein langjähriger consigliere , sein Berater. Er leitet die Geschäfte bis zu Alessandros Volljährigkeit.«
Rosa kniff die Augen ein wenig zusammen, um den Mann besser erkennen zu können. Die heiße Nachmittagssonne legte ein gleißendes Flirren über die Szenerie. Es roch intensiv nach Zypressen und dem moderigen Gestein der Gräber.
Cesare Carnevare war groß und keineswegs unattraktiv – das galt wohl für alle in dieser Familie. Sie schätzte ihn auf fünfzig, war aber nicht sicher, weil sie auch Alessandro in diesem Aufzug für älter gehalten hätte. Cesare hatte eine bullige Statur, breite Schultern und riesige Hände, was umso deutlicher wurde, wenn er die Beileidsbekundungen der vorüberziehenden Trauergäste entgegennahm: Mit seinen enormen Fingern hätte er die Faust jedes anderen Mannes vollständig umschließen können.
Rosa warf Zoe einen kurzen Seitenblick zu. »Wenn alle wissen, dass er versuchen wird, Alessandro aus dem Weg –«
»Still«, fauchte Florinda.
Sie waren jetzt beinahe in Hörweite der Familienangehörigen vor der Kapelle.
Neben Cesare stand ein zweiter junger Mann, nur wenig älter als Alessandro, athletisch und braun gebrannt, mit blondierten Strähnen im dunklen Haar. Er trug eine randlose Brille. Rosa wunderte sich, dass er ihr nicht früher aufgefallen war. Er starrte sie an. Vielleicht schon die ganze Zeit über. So offen und ungeniert, dass etwas in ihrem Inneren zu Eis wurde. Sie lockerte die Faust – damit sie sich nicht selbst verletzte, falls sie sich zur Wehr setzen musste.
»Tano«, raunte Zoe ihr zu. »Cesares Sohn.«
Florinda kam als Erste an die Reihe. Ohne Zögern reichte sie den drei Männern die Hand. Sie verzog keine Miene. Weder Cesare Carnevare noch einer der beiden Jüngeren verriet, was ihm durch den Kopf ging. Knappe, respektvolle Höflichkeiten wurden ausgetauscht. Für einen Moment verschwanden Florindas zarte Finger in Cesares Pranke.
Zoe folgte als Nächste. Sie brachte es fertig, Alessandro und Tano ein flüchtiges Lächeln zu schenken, während sie Cesare kaum in die Augen sehen konnte. Rosa fand, dass ihre Schwester sich ihr Unwohlsein eine Spur zu deutlich ansehen ließ. Sie selbst wollte es besser machen.
Tanos Blick durch die Brillengläser hielt sie ohne Mühe stand. Schüttelte seine Hand. Sprach ihm höflich ihr Mitgefühl aus. Kein Wimpernzucken, kein Zurückschrecken. Sie musste sich nicht verstellen. Ihre Aggression war ihre Stärke, und die Herausforderung im Blick von Tano Carnevare machte sie nur noch selbstsicherer.
Komm nur, wenn du es wagst, sagte ihm ihr Händedruck und an dem überraschten Blitzen in seinen Augen erkannte sie, dass die Botschaft angekommen war.
Sie wandte sich Cesare zu, Tanos Vater und Vetter des Verstorbenen. Er war von einem anderen Kaliber, daran hatte schon aus der Ferne kein Zweifel bestanden. Von nahem konnte sie die Bedrohung, die vom consigliere des verstorbenen Barons ausging, körperlich spüren. Während sie seinen kühlen, berechnenden Blick erwiderte, sah sie ihre Tante in einem neuen Licht und dafür war sie ihm dankbar: Florinda musste eine ungeheuer entschlossene Frau sein, um sich ein Leben lang Feinden wie diesem zu
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