Arkadien 01 - Arkadien erwacht
nicht schreit.«
»Und besser riecht, hoffe ich.«
Er öffnete es und presste die Nase zwischen die Seiten. »Nicht so gut wie frisch gedruckt, aber ganz in Ordnung, schätze ich.« Ihre erste Reaktion schien ihn nicht abzuschrecken. »Mein Vater hat es mir gegeben, bevor er mich ins Internat nach Amerika abgeschoben hat.«
Sie verkniff sich eine Bemerkung, beobachtete ihn nur. Sein Blick streifte über die zahllosen Gesichter auf den Grabplatten, die meisten alt und seltsam unscharf, wie Gespenster. Viele Blumen an den Grabfächern waren vertrocknet.
»Sie welken so schnell«, sagte sie.
»Glaub mir«, erwiderte er leise und nickte in die Richtung seiner Familiengruft, »auf seinem Grab würden sie auch ohne Hitze eingehen.«
Sie fischte das Buch aus seinen Fingern. »Lass mal sehen.«
Sein Lächeln kehrte zurück, wanderte von den Mundwinkeln hinauf zu seinen grünen Augen, was sie einen Moment lang von dem ledernen Bändchen in ihrer Hand ablenkte. Dann aber betrachtete sie es genauer. Vorder- und Rückseite waren unbeschriftet, das Leder verkratzt. An der Seite stand in blassgoldenen Lettern der Titel: Die Fabeln des Äsop .
Fragend sah sie ihn an, und da zeigte er ihr erneut dieses Lächeln. Als ihr bewusst wurde, dass sie es erwiderte, schaltete sie umgehend drei Gänge zurück. Eine routinierte Mischung aus Arroganz und schlechter Laune. Sie beherrschte einige Variationen davon, und diese hier schlug jeden in die Flucht. Außer U-Bahn-Kontrolleure.
Und Alessandro Carnevare.
»Kennst du Äsop?«, fragte er.
»Klingt wie eine Fluggesellschaft.«
»Er war ein griechischer Sklave, sechshundert Jahre vor Christus. Er hat Geschichten über Tiere gesammelt. Eigentlich über Menschen und ihre Eigenschaften – meistens die schlechten –, die er den jeweiligen Tieren zugeschrieben hat.«
»Wie bei Hase und Igel?«
»So ähnlich. Aber das ist nicht von Äsop.« Sein Lächeln fand sie jetzt wieder ein wenig eingebildet, aber wahrscheinlich konnte er nichts dafür. »Er selbst hat sie nie aufgeschrieben, das hat irgendwer anders ein paar Hundert Jahre später getan. Die Geschichten, die heute als Äsops Fabeln bekannt sind, stammen nur zu einem kleinen Teil wirklich von ihm.« Er zuckte die Achseln, während seine Augen scharf und stechend blieben. »Als Kind hab ich sie gern gemocht.«
»Und jetzt schenkst du sie mir?« Sie wollte nicht sarkastisch klingen, aber es ging einfach nicht anders. »Wie süß.«
Sie schlug das Büchlein in der Mitte auf und berührte die Bindung mit der Nasenspitze. Es roch tatsächlich gut, fremd und ungewohnt. Bei ihr zu Hause hatte es Taschenbücher gegeben, aber keine so altehrwürdigen Bände wie diesen. Der Geruch ließ sie an die Bibliothek im Palazzo denken, in die sie am Morgen im Vorbeigehen einen Blick geworfen hatte. Trotzdem roch dieses Buch anders. Überhaupt nicht muffig. Als wäre es in all den Jahren immer wieder aufgeschlagen, durchgeblättert und gelesen worden.
Und da wurde ihr klar, dass ihm dieses Buch noch immer etwas bedeutete. Das machte es umso unverständlicher, warum er es ausgerechnet ihr geben wollte.
Die Fabeln des Äsop . Geschichten über Tiere mit menschlichen Eigenschaften. Er beobachtete sie.
»Danke«, sagte sie, als sie es wieder zuschlug. »Ich mag Bücher. Ich hatte nur nie viele.«
»Ein Babybuch, hast du gesagt.« Seine Augen funkelten.»Lässt du erst mal eines ins Haus, kommen die nächsten fast von selbst.«
Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, interessiert, aber auch irritiert. »Das ist nicht alles«, stellte sie fest. »Oder?«
»Wie gesagt … ich wollte dich einladen. Ich war jahrelang nur die Ferien über auf Sizilien, im Grunde bin ich also genauso neu hier wie du.«
»Und du glaubst, das macht uns zu Freunden.« Sie sagte das schnell und hart und kalt, und sie konnte ihm ansehen, dass ihr Tonfall ihn traf.
Dennoch schien er bemüht sich nichts anmerken zu lassen. »Morgen fahren wir zu mehreren Leuten rüber zur Isola Luna. Eigentlich ist es nur ein Felsklotz aus Vulkangestein mit ein paar Häusern und einer Anlegestelle, oben vor der Nordküste.« Er zuckte entschuldigend die Achseln. »Die Insel gehört meiner Familie. Tano hat ein paar seiner Freundinnen und Freunde zusammengetrommelt, aber glaub mir, sie sind ganz sicher nicht meine Freunde.«
»Du fragst mich, ob ich mit dir und deinem, entschuldige, mäßig sympathischen Cousin –«
»Großcousin.«
»– und einer Bande wildfremder
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