Arkadien 03 - Arkadien fällt
mir etwas«, rief sie von hinten. »Wenn eure eigenen Familien euch lieber heute als morgen abservieren wollen, warum habt ihr dann nicht auf Quattrini gehört und seid ausgestiegen? Was habt ihr davon, die Zielscheibe für eine Horde Auftragskiller abzugeben und euch dabei selbst strafbar zu machen? Ist es das Geld, all der Luxus? Teure Autos wie das hier? Ich versteh’s nicht.«
Rosa begriff es selbst nicht so recht. Sie war nach Sizilien gekommen, um ein paar Tausend Kilometer Atlantik zwischen sich und ihre Vergangenheit zu bringen. Nur dass die Vergangenheit hier auf der Insel bereits auf sie gewartet hatte. Statt das Trauma ihrer Vergewaltigung und der Abtreibung zu überwinden, hatte sie sich der Geschichte ihrer Familie stellen müssen. Ohne sich darum zu reißen, hatte sie sich nach der Ermordung ihrer Tante Florinda in der Rolle des Clanoberhaupts wiedergefunden. Damit nicht genug: Wie ein Familienfluch hatte sie das größte Verbrechen ihrer Großmutter Costanza eingeholt, der geheime Pakt mit TABULA. Schließlich hatte Rosa entdeckt, dass ihr tot geglaubter Vater Davide womöglich noch am Leben war und persönlich ihre Vergewaltigung durch Tano Carnevare angeordnet hatte. Und nicht zuletzt war da ihr Erbe als Mitglied der Arkadischen Dynastien, ihre unverhoffte Fähigkeit, die Gestalt einer drei Meter langen Riesenschlange anzunehmen.
Der ganze verdammte Atlantik war nicht breit genug gewesen, um sie ihre Probleme vergessen zu lassen. Und nun hatte sie eine Unzahl neuer Sorgen am Hals, die sie alle ihrer Abstammung verdankte. Stefanias Frage war also berechtigt: Warum tat sie sich das an? Weshalb hatte sie nicht längst einen Schlussstrich gezogen und Sizilien verlassen?
Sie hatte wohl schlichtweg den Zeitpunkt verpasst, an dem sie von dem fahrenden Zug hätte abspringen können. Vermutlich schon an dem Tag, als sie zum ersten Mal in Alessandros smaragdgrüne Augen geblickt hatte. Und sie dachte nicht im Traum daran, diese Liebe zu opfern. Auch nicht im Austausch gegen ein Leben ohne die Mafia – ein Leben ohne ihn.
War das die Antwort auf Stefanias Frage? Eine Antwort?
Alessandro hatte eine andere: »Mein Vater hat zugelassen, dass meine Mutter ermordet wurde«, sagte er. »Dann ist er selbst getötet worden, von seinem engsten Vertrauten. Nur deswegen bin ich zum capo der Carnevares geworden. Und jetzt ist auch noch Fundling gestorben. Ich kann nicht einfach aufgeben, sonst wäre das alles sinnlos gewesen.«
Rosa musterte von der Seite sein schönes Gesicht im Wechsel von Licht und Schatten der einsamen Waldstraße. Vielleicht war das die einzige Facette seines Charakters, die sie niemals ganz verstehen würde: sein vehementes Beharren darauf, dass er die Carnevares anführen musste . Dass es zugleich Geburtsrecht wie Verpflichtung war. Er hatte zu hart dafür gekämpft, an die Spitze seines Clans zu gelangen.
»Was ist mit den falschen Papieren?«, fragte Stefania. »Sind das denn keine Tickets für ein neues Leben?«
»Die sind nur für den Notfall.«
Hatte er eigentlich je vorgehabt, mit Rosa darüber zu sprechen? Hätte er sie überhaupt in diese Entscheidung mit einbezogen, ehe es zu spät war?
Die Polizistin lachte leise. »Und wann soll dieser Notfall eintreten, wenn nicht jetzt?«
Seine Hand schloss sich hart um den Schaltknüppel, dann trat er unvermittelt auf die Bremse. Rosa wurde vorwärts in den Gurt geworfen.
»Hey!«, stieß sie aus.
»Tut mir leid«, murmelte er und sprang ins Freie. Rosa fürchtete, Stefania könnte versuchen, durch die offene Fahrertür zu entkommen. Hastig riss sie die Pistole aus dem Fußraum vor ihrem Sitz und wirbelte herum. Über den Lauf hinweg starrten sie und die Polizistin sich an.
»Du erschießt mich nicht«, sagte Stefania. »Du bist keine Mörderin.«
»Wo wollen Sie hin, mitten im Gebirge, mit Handschellen an Händen und Füßen? Ich muss nicht auf Sie schießen, um Sie aufzuhalten. Sie können hier nicht weg. Also lehnen Sie sich wieder zurück und halten Sie den Mund.«
Alessandro öffnete die Heckklappe und kramte in einer Kiste. Daraus hatte er vor ihrer Abfahrt bereits einen Wechselsatz gefälschter Nummernschilder hervorgezaubert.
Einen Moment später war er bei Stefania auf dem Rücksitz, mit einem Lappen und einer Rolle Klebeband in der Hand. Sie protestierte heftig, als er sie knebelte, sorgfältig darauf bedacht, dass sie durch die Nase frei atmen konnte.
»Muss das wirklich sein?«, fragte Rosa.
»Sollen wir uns das
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