Arkadien 03 - Arkadien fällt
Das waren Haarspaltereien, natürlich.
»An die beiden Speedboote an der Anlegestelle kommen wir nicht heran«, sagte er. »Aber auf dem Satellitenbild war noch das dritte zu erkennen, unten in der Sandbucht. Ich hab nicht gesehen, dass sie es zur Stabat Mater gebracht hätten. Wahrscheinlich liegt es noch immer dort.«
Mit einer verstohlenen Handbewegung schob sie das Foto vor ihm auf die Brüstung und ließ die Finger auf einer Ecke ruhen, damit der Seewind es nicht fortwehte.
Er las die handgeschriebenen Namen am Rand und blickte Rosa verständnislos an. »Aus Moris Archiv?«
Sie nickte und berichtete ihm leise, was sie von Cristina erfahren hatte. Ihre Stimme zitterte ein wenig, obgleich sie versuchte, so sachlich wie möglich zu bleiben. Zum Abschluss sagte sie: »Ich muss dorthin. Vielleicht erinnert sich noch jemand an irgendwas. Falls es noch Papiere gibt, irgendwelche Unterlagen –«
»Und das ist wie lange her? An die vierzig Jahre?«
»Ich weiß. Aber wenn auch nur die winzigste Chance besteht, dass Apollonio nicht mein Vater ist, dann kann ich nicht anders. Ich kann ihn nicht mein Leben lang für etwas hassen, das vielleicht jemand anders getan hat, der genauso aussieht wie er. Verstehst du das nicht?«
»Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst. Die Hügel zwischen Campofelice di Fitalia und Corleone sind eine Einöde, es gibt dort nichts als verlassene Bauernhöfe und ausgestorbene Hirtendörfer. Früher wurde die Gegend ›Friedhof der Mafia‹ genannt, weil der Corleone-Clan seine Toten dort verscharrt hat.«
»Ich dachte, das hätten die Carnevares erledigt?«
»Nicht für die Corleonesen. Mit diesen Schweinen hatten wir nie viel zu tun.« Nach kurzem Durchatmen fügte er hinzu: »Jedenfalls weiß ich nichts davon.«
Sie steckte das Foto ein und zog ihn an den Händen zu sich heran. Vor dem leuchtenden Mittelmeerpanorama pressten sie sich eng aneinander. Die Sonne badete sie in Wärme, der Wind roch nach Salz und Ferien. Nur der Scherbenteppich unter ihren Füßen erinnerte an das, was hier geschehen war.
Schließlich sah sie ihm wieder in die Augen. »Du hast tatsächlich Angst davor, oder?«
»Was meinst du?«
»Vor dem, was wir noch herausfinden könnten. Über deinen Vater, über meinen Vater, über alles, was damals passiert ist. Davor, dass vieles von dem, was wir immer geglaubt haben, nur eine Täuschung war.«
Er suchte nach Worten. »Ich hab immer gewusst, was meine Familie tut. Es gab nicht den einen Moment, in dem ich plötzlich irgendwas durchschaut hätte, jedenfalls nicht, was die Geschäfte anging. Das war immer ganz selbstverständlich. Andere Väter waren Mechaniker oder Lehrer, meiner war eben bei der Cosa Nostra. Es hat kein mysteriöses Schweigen beim Abendessen gegeben, keine versteckten Blicke oder Geflüster. Die Geschäfte waren die Geschäfte, und es hat keine Rolle gespielt, ob sie legal waren oder ob es um Drogen, Geldwäsche oder Waffen ging. Ich dachte immer, es gäbe keine Geheimnisse. Selbst als ich von den Arkadiern erfahren habe, von dem, was wir sind, hab ich noch geglaubt, in alles eingeweiht zu sein.« Er hielt inne, schloss für einige Sekunden die Augen und sagte dann: »Aber jetzt habe ich das Gefühl, als ginge ich durch ein Haus, das ich von Kind auf kenne – nur dass hinter allen Türen fremde Zimmer liegen. Räume, die ich nie im Leben betreten habe.«
»Und gar nicht betreten willst.« Sie wusste genau, was er empfand. Alles war gut, solange sie sich nur einig waren in den wirklich wichtigen Dingen.
Er küsste sie wieder, lächelte, gab ihr noch einen Kuss. Dieser Morsecode war so sehr Alessandro, etwas, das sie nur von ihm kannte, dass ihr für einen Augenblick tatsächlich ein wenig weich in den Knien wurde. Darüber musste sie lachen, es war so albern und wunderschön zugleich.
»Worüber lachst du?«, fragte er.
»Nur über mich selbst.«
Sie legte ihre Wange an seine Brust, schloss die Augen und lauschte auf das Meeresrauschen aus der Tiefe, das Säuseln des Windes in den Lavaspalten, auf seinen Pulsschlag oder ihren eigenen; sie war nicht mehr sicher, ob es da noch einen Unterschied gab. In diesem Moment hielt dasselbe Herz sie beide am Leben.
Unten am Ufer röhrte der Motor eines Bootes. Rosa glaubte schon, es sei Danai, die gefunden hatte, was sie suchte, und nun zur Insel kam, um sie abzuholen. Aber das Boot fuhr von der Isola Luna hinüber zum Schiff, besetzt mit zwei Hybriden, winzigen Punkten im
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