Arm und Reich
daraus erwachsende Mehrdeutigkeit wurde durch Hinzufügung von stummen Zeichen aufgelöst, sogenannten Determinativen, die Auskunft über die Klasse des von dem betreffenden Logogramm dargestellten Objekts gaben. Linguisten sprechen bei dieser entscheidenden Innovation, die auch Bilderrätseln zugrunde liegt, vom Rebusprinzip.
Nachdem die Sumerer dieses phonetische Prinzip einmal entdeckt hatten, wandten sie es bald nicht mehr nur auf abstrakte Substantive an, sondern benutzten es auch zur Darstellung von Silben oder Buchstaben, die als grammatische Endungen fungierten. Im Englischen würde man vor einem ziemlichen Problem stehen, sollte man ein Bild der häufig vorkommenden Silbe -tion zeichnen; man könnte aber statt dessen mit einem Bild das Verb shun (meiden) darstellen, das ganz ähnlich klingt. Phonetisch interpretierte Zeichen dienten auch dazu, die Laute der einzelnen Silben längerer Wörter in Form einer Serie von Bildern wiederzugeben. Das ist ungefähr so, als ob ein Engländer das Wort believe (glauben) durch das Bild einer Biene (bee) und eines Blattes (leaf) darstellen würde. Phonetische Zeichen ermöglichten es den Schriftgelehrten darüber hinaus, das gleiche Piktogramm für eine Reihe verwandter Wörter (wie tooth, speech und speaker) zu verwenden, wobei die Mehrdeutigkeit durch Hinzufügung einer sogenannten phonetischen Ergänzung aufgelöst wurde (um beispielsweise zu signalisieren, ob ein Zeichen als two, each oder peak gelesen werden soll).
Babylonische Keilschrift, abgeleitet von der Keilschrift der Sumerer
Auf diese Weise entwickelte sich die sumerische Schrift zu einem komplizierten System aus drei Zeichentypen: Logogrammen, die ein ganzes Wort oder einen Namen abbildeten, phonetischen Zeichen, die quasi zum Buchstabieren von Silben, grammatischen Elementen oder Wortteilen dienten, und Determinativen, die keinen eigenen Lautwert besaßen, aber zur Auflösung von Mehrdeutigkeiten benötigt wurden. Dennoch handelte es sich bei den phonetischen Zeichen der Sumerer noch nicht um eine vollständige Silben- oder Alphabetschrift. Für manche Silben gab es überhaupt kein Schriftzeichen, und manche Zeichen konnten ganz unterschiedlich ausgesprochen werden. Zudem kam es vor, daß ein Zeichen einmal als Wort und einmal als Silbe oder Buchstabe gelesen werden konnte.
Der andere Ort neben Mesopotamien, an dem die Schrift mit Sicherheit unabhängig entwickelt wurde, war Mesoamerika und dort wahrscheinlich das südliche Mexiko. Es wird davon ausgegangen, daß die Schriften der indianischen Kulturen dieser Region unbeeinflußt von der Alten Welt entstanden, da für die Zeit vor den Atlantiküberquerungen der Wikinger keine überzeugenden Beweise für Kontakte zwischen Neuer Welt und schriftbesitzenden Gesellschaften der Alten Welt vorliegen. Hinzu kommt, daß sich die Formen der mesoamerikanischen Schriftzeichen radikal von allen unterschieden, die wir aus der Alten Welt kennen. Rund ein Dutzend mesoamerikanischer Schriften sind heute bekannt, wobei zwischen den meisten oder sogar allen eine offenkundige Verwandtschaft besteht (etwa im Zahlen- und Kalendersystem). Nur ein kleiner Teil konnte bisher weitgehend entziffert werden. Momentan stammt die älteste erhaltene mesoamerikanische Schrift aus dem Gebiet von Zapotec im Süden Mexikos und wurde auf etwa 600 v. Chr. datiert. Am weitesten entziffert ist dagegen eine Schrift aus dem Maya-Tiefland; das älteste darin gefundene Datum entspricht dem Jahr 292 n. Chr.
Trotz des unabhängigen Ursprungs und der charakteristischen Formen der verwendeten Zeichen kommen in der Maya-Schrift grundsätzlich ähnliche Regeln zum Tragen wie in der sumerischen Schrift und in anderen westeurasischen Schriftsystemen, die sich von den Sumerern inspirieren ließen. Ebenso wie in der sumerischen Schrift wurden auch bei den Mayas sowohl Logogramme als auch phonetische Zeichen verwendet. Logogramme zur Darstellung abstrakter Begriffe wurden häufig nach dem Rebusprinzip abgeleitet. Das heißt, ein abstrakter Begriff wurde mit dem Zeichen für ein anderes, gleich ausgesprochenes Wort mit unterschiedlicher Bedeutung dargestellt, das sich leicht durch ein Bild repräsentieren ließ. Wie bei der mykenischen Linear-B- und den japanischen Kana-Silbenschriften standen die phonetischen Zeichen der Mayas zumeist für Silben, die sich aus einem Konsonanten und einem Vokal zusammensetzten (z. B. ta, te, ti, to, tu ). Ähnlich
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