Arm und Reich
Ideendiffusion (z. B. die altirische Oghamschrift ), in der Regel aber durch Nachahmung und Veränderung der Buchstabenformen.
Diese Evolution des Alphabets läßt sich bis zur ägyptischen Hieroglyphenschrift zurückverfolgen, die für jeden der 24 ägyptischen Konsonanten ein eigenes Zeichen besaß. Die Ägypter taten jedoch nie den (aus unserer Sicht) logischen nächsten Schritt und gaben all ihre Logogramme, Determinative und Zeichen für Konsonantenpaare und -trios auf, um nur noch ihr Konsonantenalphabet zu verwenden. Ab etwa 1700 v. Chr. begannen Semiten, die mit den ägyptischen Hieroglyphen vertraut waren, Experimente in dieser Richtung.
Die Beschränkung von Zeichen auf die Darstellung einzelner Konsonanten war nur die erste von drei wesentlichen Innovationen, durch die sich Alphabete von anderen Schriftsystemen unterschieden. Die zweite bestand in der Anordnung der Buchstaben in einer festen Reihenfolge und in der Vergabe von Namen, die man sich leicht merken konnte. Im Englischen verwenden wir zum Buchstabieren unseres Alphabets weitgehend bedeutungslose Silben (»a«, »bee«, »cee«, »dee« usw.). Die semitischen Namen hatten dagegen in semitischen Sprachen eine Bedeutung: Es handelte sich um Wörter für Dinge des täglichen Lebens ( wie aleph = Ochse, beth = Haus, gimel = Kamel, daleth = Tür usw.). Diese semitischen Bezeichnungen standen in »akrophonischer« Verwandtschaft zu den entsprechenden semitischen Konsonanten, was bedeutet, daß die Buchstaben nach Objekten benannt wurden, deren Bezeichnung mit dem entsprechenden Laut begann (also a, b, g, d usw.). Überdies handelte es sich bei den ältesten Formen vieler semitischer Buchstaben um bildliche Darstellungen der besagten Objekte. Aus all diesen Gründen waren die Formen, Namen und die Reihenfolge der Buchstaben des semitischen Alphabets leicht zu behalten. In vielen modernen Alphabeten, so auch in unserem, ist die ursprüngliche Reihenfolge mit kleinen Änderungen bis heute, über 3000 Jahre später, im wesentlichen erhalten geblieben (das griechische Alphabet behielt sogar die ursprünglichen Namen der Buchstaben bei: Alpha, Beta, Gamma, Delta usw.). Eine Änderung, die Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, bestand darin, daß aus dem semitischen und griechischen g der lateinische Buchstabe c wurde; dafür erfanden die Römer ein neues g und gaben ihm seine jetzige Position im Alphabet.
Die dritte und letzte Innovation auf dem Weg zu modernen Alpha beten war die Einführung von Vokalen. Schon in der Frühphase des semitischen Alphabets wurde mit Methoden zur Darstellung von Vokalen experimentiert, indem man kleine Vokalzeichen erfand oder Punkte, Linien oder Haken über die Konsonanten setzte. Im 8. Jahrhundert v. Chr. gingen die Griechen als erste dazu über, alle Vokale systematisch mit Zeichen des gleichen Typs wie Konsonanten zu schreiben. Ihre Vokale α – ε – η – ο gewannen sie durch »Umfunktionierung« von fünf Buchstaben des phönizischen Alphabets, die sie nicht benötigten, da es die entsprechenden Laute in ihrer Sprache nicht gab.
Von jenen ältesten semitischen Alphabeten führte eine Evolutionslinie über die frühen arabischen Alphabete zum modernen äthiopischen Alphabet. Eine weitaus bedeutendere Linie führte zum aramäischen Alphabet, in dem offizielle Dokumente des Persischen Reichs verfaßt waren, und von dort zu den modernen arabischen, hebräischen, indischen und südostasiatischen Alphabeten. Die für die meisten europäischen und amerikanischen Leser wichtigste Entwicklungslinie führte jedoch über die Phönizier im 8. Jahrhundert zu den Griechen, von dort im gleichen Jahrhundert zu den Etruskern und ein Jahrhundert später zu den Römern, deren unwesentlich modifiziertes Alphabet Sie gerade vor sich haben. Dank ihrer potentiellen Überlegenheit, die in der Kombination von Genauigkeit und Einfachheit liegt, konnten sich Alphabete mittlerweile in den meisten Regionen der Welt durchsetzen.
Das Kopieren und Abwandeln von »Blaupausen« ist zwar die einfachste Methode, um sich neue Techniken anzueignen, doch diese Option ist nicht immer vorhanden. Vielleicht wird die ursprüngliche Erfindung geheimgehalten, oder ihre Details sind nur denen verständlich, die in ihre Geheimnisse bereits eingeweiht sind. Vielleicht spricht sich auch nur herum, daß an irgendeinem fernen Ort eine Erfindung gemacht wurde, ohne daß nähere Einzelheiten
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