Arm und Reich
wie die Buchstaben des alten semitischen Alphabets wurden die Silbenzeichen der Mayas aus Bildern des Objekts abgeleitet, dessen Aussprache mit der betreffenden Silbe anfing (z. B. ähnelt das Silbenzeichen »ne« einem Schwanz, für den das Maya-Wort neh lautet).
All diese Parallelen zwischen mesoamerikanischer und früher westeurasischer Schriftzeugen von der Universalität der menschlichen Kreativität. Obgleich zwischen der Sprache der Sumerer und jener der mesoamerikanischen Indianer keine Verwandtschaft besteht, stellten sich in beiden Fällen ähnliche Grundprobleme bei der Umsetzung von Gesprochenem in Geschriebenes. Und so wurden die von den Sumerern um 3000 v. Chr. gefundenen Lösungen um 600 v. Chr. von mesoamerikanischen Indianern auf der anderen Seite des Erdballs neu entdeckt.
Vielleicht mit Ausnahme der Schrift der Ägypter, der Chinesen und der Osterinsulaner, auf die wir noch eingehen werden, stammten anscheinend alle Schriftsysteme, die jemals entwickelt wurden, von Systemen ab, die Abwandlungen der sumerischen oder mesoamerikanischen Schrift darstellten oder zumindest von diesen angeregt waren. Ein Grund, warum die Schrift nur so wenige Male unabhängig entstand, war der, daß es sich, wie schon erwähnt, um eine äußerst schwierige Erfindung handelte. Ein zweiter Grund lag darin, daß die sumerische beziehungsweise frühe mesoamerikanische Schrift und deren Derivate möglichen weiteren unabhängigen Erfindungen der Schrift zuvorkamen.
Wir wissen, daß die Entwicklung der sumerischen Schrift mindestens Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Jahren dauerte. Wie wir sehen werden, setzte dieser Prozeß einige kulturelle Merkmale voraus, von denen es abhing, ob eine Gesellschaft die Schrift als nützlich ansehen würde und ob sie in der Lage war, eine Zunft von Schreibern mitzuernähren. Neben den Sumerern und den frühen Mexikanern erfüllten eine Vielzahl weiterer Gesellschaften – etwa in Indien, auf Kreta und in Äthiopien – diese Voraussetzungen. Sumerer und Mexikaner waren aber nun einmal die ersten, die in der Alten beziehungsweise Neuen Welt an diesem Punkt ankamen. Nachdem sie die Schrift erfunden hatten, breiteten sich Informationen über Einzelheiten und Regeln schnell aus und gelangten anderen Kulturen zur Kenntnis, bevor diese ihrerseits jahrhunderte- oder jahrtausendelang, wie es erforderlich gewesen wäre, unabhängig mit der Schrift experimentieren konnten. Damit wurde das Potential für weitere unabhängige Experimente im Keim erstickt.
In Stein gehauene Maya-Schriftzeichen aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. bei Yaxchilan, Mexiko
Die Ausbreitung der Schrift geschah auf zwei ganz unterschiedliche Weisen, für die es in der Technik- und Ideengeschichte zahlreiche Parallelen gibt. Jemand macht eine Erfindung und nutzt sie. Wie erfindet man daraufhin als interessierter potentieller Nutzer etwas Ähnliches für den eigenen Gebrauch, wenn man weiß, daß eine funktionierende Version bereits existiert?
Die Weitergabe von Erfindungen nimmt sehr vielfältige Formen an. Das eine Ende des Spektrums bildet das Kopieren von »Blaupausen«, wobei ein vorhandenes, detailliertes Muster genau nachgeahmt oder modifiziert wird. Am anderen Ende des Spektrums steht die »Ideendiffusion«, bei der kaum mehr als der Grundgedanke bekannt ist, die Details aber neu erfunden werden müssen. Das Wissen, daß etwas machbar ist, dient dabei als Ansporn für eigene Bemühungen, doch die Lösung, die am Ende herauskommt, muß nicht unbedingt mit der des ursprünglichen Erfinders übereinstimmen.
Nehmen wir dazu ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit. Historiker streiten noch immer darüber, ob Blaupausen-Kopie oder Ideendiffusion mehr zum Bau der russischen Atombombe beigetragen hat. Waren für die sowjetischen Anstrengungen technische Unterlagen über die bereits vorhandene amerikanische Bombe, von Spionen gestohlen und in die Sowjetunion geschafft, von entscheidender Bedeutung? Oder war es eher so, daß der Abwurf einer amerikanischen Atombombe auf Hiroshima Stalin davon überzeugte, daß der Bau einer solchen Waffe möglich war, woraufhin russische Wissenschaftler die erforderlichen Prinzipien im Schnellverfahren neu erfanden, ohne auf detaillierten Ergebnissen der vorangegangenen amerikanischen Forschung aufbauen zu können? Ähnliche Fragen stellen sich, wenn wir nach der Erfindung des Rads, der Pyramiden und des Schießpulvers
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