Arm und Reich
sprachlichen Einheiten, die von einzelnen Zeichen dargestellt werden: Laute, Silben oder Wörter. Am stärksten verbreitet sind heute Alphabetschriften, die im Idealfall für jede kleinste sprachliche Einheit (Phonem) ein eigenes Zeichen (Buchstabe) besitzen. In Wirklichkeit umfassen die meisten Alphabete jedoch nur 20 bis 30 Buchstaben, denen in den meisten Sprachen eine größere Zahl von Phonemen gegenübersteht. So werden die rund 40 Phoneme der englischen Sprache von lediglich 26 Buchstaben dargestellt. Das bedeutet, daß die meisten Sprachen mit Alphabetschriften gezwungen sind, dem gleichen Buchstaben verschiedene Phoneme zuzuordnen und einige Phoneme durch Buchstabenkombinationen darzustellen, wie beispielsweise sh und th im Englischen (im griechischen Alphabet gibt es für jeden der beiden Laute einen eigenen Buchstaben).
Die zweite Strategie verwendet statt dessen sogenannte Logogramme, das heißt Zeichen, die ein ganzes Wort darstellen. Diese Funktion haben viele chinesische Zeichen und auch die in der japanischen Schrift dominierenden »Kanjis«. Vor dem Siegeszug der Alphabetschriften in vielen Teilen der Welt waren Schriftsysteme auf der Basis von Logogrammen am weitesten verbreitet. Hierzu zählten zum Beispiel die ägyptischen Hieroglyphen, die sumerische Keilschrift und die Schriftzeichen der Mayas.
Bei der dritten Strategie, die den meisten Lesern am wenigsten vertraut sein dürfte, steht ein Zeichen jeweils für eine Silbe. In den bekannten Silbenschriften gibt es allerdings nur Zeichen für Silben, die aus einem Konsonanten und einem nachfolgenden Vokal bestehen (wie in Kakadu), während andere Silbentypen unter Zuhilfenahme verschiedener Tricks dargestellt werden. Ein Beispiel für Silbenschriften, die in der Antike weit verbreitet waren, ist die Linear-B-Schrift aus dem mykenischen Griechenland. Aber auch heute noch gibt es Silbenschriften. Am bekanntesten sind wohl die Kana-Silbenschriften, die in Japan unter anderem für Telegramme, Bankauszüge und Blindentexte verwendet werden.
Ich habe bewußt von drei Strategien und nicht Schriftsystemen gesprochen, da keines der heutigen Schriftsysteme eine dieser Strategien in Reinkultur verwirklicht. Weder ist die chinesische Schrift rein logographisch noch die englische rein alphabetisch. Wie alle Alphabetschriften weist auch das Englische zahlreiche Logogramme auf, wie beispielsweise $, % und +, also arbiträre Zeichen, die jeweils ein ganzes Wort darstellen und nicht aus phonetischen Elementen zusammengesetzt sind. Die »syllabische« Linear-B-Schrift enthielt eine große Zahl von Logogrammen, während die »logographische« Hieroglyphenschrift der Ägypter eine Vielzahl von Silbenzeichen sowie praktisch ein komplettes Alphabet von Buchstaben für jeden Konsonanten aufwies.
Wer bei Null anfangen mußte, hatte es bei der Erfindung einer Schrift ungleich schwerer als derjenige, der ein vorhandenes System übernehmen und an die Bedürfnisse seiner Sprache anpassen konnte. Die ersten Schreiber mußten sich über Grundregeln den Kopf zerbrechen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen. So mußten sie Methoden finden, wie der natürliche Redefluß in sprachliche Einheiten zerlegt werden kann, ob nun in Wörter, Silben oder Phoneme. Der gleiche Laut beziehungsweise die gleiche sprachliche Einheit mußte trotz aller Unterschiede in der Lautstärke, Stimmlage, Sprechgeschwindigkeit, Betonung, Satzteilanordnung und Aussprache erkannt werden. Und es mußte beschlossen werden, daß ein Schriftsystem alle derartigen Unterschiede ignorieren sollte. Danach galt es Möglichkeiten zu ersinnen, wie Laute durch Symbole dargestellt werden konnten.
Auf die eine oder andere Weise meisterten die ersten Schreiber all diese Probleme, ohne sich am Beispiel einer existierenden Schrift orientieren zu können. Offensichtlich war die Aufgabe, die sie vollbrachten, so schwierig, daß in der Geschichte der Menschheit nur wenige Male eine Schrift ohne Vorbild neu erfunden wurde. Die zwei Fälle, in denen keine Zweifel bestehen, sind die Schrift der Sumerer, die etwas vor 3000 v. Chr. in Mesopotamien entwickelt wurde, und die der mexikanischen Indianer aus der Zeit um 600 v. Chr. (Abbildung 11.1). Auch die ägyptische Schrift (um 3000 v. Chr.) und die chinesische Schrift (um 1300 v. Chr.) entstanden möglicherweise ohne äußere Vorbilder, aber ganz sicher wissen wir das nicht. Alle anderen
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