Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
sprach­lichen Einheiten, die von einzelnen Zeichen dargestellt werden: Laute, Silben oder Wörter. Am stärksten ver­breitet sind heute Alphabetschriften, die im Idealfall für jede kleinste sprachliche Einheit (Phonem) ein eigenes Zeichen (Buchstabe) besitzen. In Wirklichkeit umfassen die meisten Alphabete jedoch nur 20 bis 30 Buchstaben, denen in den meisten Sprachen eine größere Zahl von Phonemen gegenübersteht. So werden die rund 40 Pho­neme der englischen Sprache von lediglich 26 Buchsta­ben dargestellt. Das bedeutet, daß die meisten Sprachen mit Alphabetschriften gezwungen sind, dem gleichen Buchstaben verschiedene Phoneme zuzuordnen und ei­nige Phoneme durch Buchstabenkombinationen darzu­stellen, wie beispielsweise sh und th im Englischen (im griechischen Alphabet gibt es für jeden der beiden Lau­te einen eigenen Buchstaben).
    Die zweite Strategie verwendet statt dessen sogenann­te Logogramme, das heißt Zeichen, die ein ganzes Wort darstellen. Diese Funktion haben viele chinesische Zei­chen und auch die in der japanischen Schrift dominie­renden »Kanjis«. Vor dem Siegeszug der Alphabetschrif­ten in vielen Teilen der Welt waren Schriftsysteme auf der Basis von Logogrammen am weitesten verbreitet. Hierzu zählten zum Beispiel die ägyptischen Hierogly­phen, die sumerische Keilschrift und die Schriftzeichen der Mayas.
    Bei der dritten Strategie, die den meisten Lesern am wenigsten vertraut sein dürfte, steht ein Zeichen jeweils für eine Silbe. In den bekannten Silbenschriften gibt es allerdings nur Zeichen für Silben, die aus einem Konso­nanten und einem nachfolgenden Vokal bestehen (wie in Ka­ka­du), während andere Silbentypen unter Zuhil­fenahme verschiedener Tricks dargestellt werden. Ein Beispiel für Silbenschriften, die in der Antike weit ver­breitet waren, ist die Linear-B-Schrift aus dem mykeni­schen Griechenland. Aber auch heute noch gibt es Silben­schriften. Am bekanntesten sind wohl die Kana-Silben­schriften, die in Japan unter anderem für Telegramme, Bankauszüge und Blindentexte verwendet werden.
    Ich habe bewußt von drei Strategien und nicht Schrift­systemen gesprochen, da keines der heutigen Schriftsy­steme eine dieser Strategien in Reinkultur verwirklicht. Weder ist die chinesische Schrift rein logographisch noch die englische rein alphabetisch. Wie alle Alphabetschrif­ten weist auch das Englische zahlreiche Logogramme auf, wie beispielsweise $, % und +, also arbiträre Zei­chen, die jeweils ein ganzes Wort darstellen und nicht aus phonetischen Elementen zusammengesetzt sind. Die »syllabische« Linear-B-Schrift enthielt eine große Zahl von Logogrammen, während die »logographische« Hie­roglyphenschrift der Ägypter eine Vielzahl von Silben­zeichen sowie praktisch ein komplettes Alphabet von Buchstaben für jeden Konsonanten aufwies.
    Wer bei Null anfangen mußte, hatte es bei der Erfin­dung einer Schrift ungleich schwerer als derjenige, der ein vorhandenes System übernehmen und an die Be­dürfnisse seiner Sprache anpassen konnte. Die ersten Schreiber mußten sich über Grundregeln den Kopf zer­brechen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen. So mußten sie Methoden finden, wie der natürliche Re­defluß in sprachliche Einheiten zerlegt werden kann, ob nun in Wörter, Silben oder Phoneme. Der gleiche Laut beziehungsweise die gleiche sprachliche Einheit muß­te trotz aller Unterschiede in der Lautstärke, Stimm­lage, Sprechgeschwindigkeit, Betonung, Satzteilanord­nung und Aussprache erkannt werden. Und es mußte beschlossen werden, daß ein Schriftsystem alle derarti­gen Unterschiede ignorieren sollte. Danach galt es Mög­lichkeiten zu ersinnen, wie Laute durch Symbole dargestellt werden konnten.
    Auf die eine oder andere Weise meisterten die ersten Schreiber all diese Probleme, ohne sich am Beispiel einer existierenden Schrift orientieren zu können. Offensicht­lich war die Aufgabe, die sie vollbrachten, so schwierig, daß in der Geschichte der Menschheit nur wenige Male eine Schrift ohne Vorbild neu erfunden wurde. Die zwei Fälle, in denen keine Zweifel bestehen, sind die Schrift der Sumerer, die etwas vor 3000 v. Chr. in Mesopotami­en entwickelt wurde, und die der mexikanischen India­ner aus der Zeit um 600 v. Chr. (Abbildung 11.1). Auch die ägyptische Schrift (um 3000 v. Chr.) und die chinesi­sche Schrift (um 1300 v. Chr.) entstanden möglicherweise ohne äußere Vorbilder, aber ganz sicher wissen wir das nicht. Alle anderen

Weitere Kostenlose Bücher