Arm und Reich
fragen. Im folgenden wollen wir untersuchen, welche Rolle Blaupausen-Kopie und Ideendiffusion bei der Ausbreitung der Schrift spielten.
Heute wird die Methode der Blaupausen-Kopie von studierten Linguisten angewandt, um Schrift systeme für bislang ungeschriebene Sprachen zu entwickeln. Bei den meisten derart maßgeschneiderten Systemen handelt es sich um Abwandlungen existierender Alphabete, in einigen Fällen jedoch auch um Silbenschriften. So arbeiten linguistisch geschulte Missionare an abgewandelten Formen des lateinischen Alphabets für Hunderte neuguineischer und indianischer Sprachen. Linguisten im Staatsdienst entwickelten das abgewandelte lateinische Alphabet, das 1928 in der Türkei als Schrift übernommen wurde, sowie das abgewandelte kyrillische Alphabet, das für viele Sprachen ethnischer Gruppen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion benutzt wird.
In einigen Fällen wissen wir sogar etwas über die Personen, die einst Schriftsysteme durch Blaupausen-Kopie schufen. So basiert das in Rußland gebräuchliche kyrillische Alphabet auf einer Bearbeitung griechischer und hebräischer Buchstaben durch den heiligen Kyrill, einen griechischen Slawen-Missionar des 9. Jahrhunderts. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse einer germanischen Sprache wurden im gotischen Alphabet abgefaßt. Es geht auf Bischof Wulfila zurück, einen Missionar, der im 4. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Bulgarien bei den Westgoten lebte. Wie die Erfindung des heiligen Kyrill war auch Wulfilas Alphabet eine bunte Mischung aus Buchstaben, die verschiedenen Quellen entlehnt waren. Es enthielt an die 20 griechische Buchstaben, etwa fünf lateinische und zwei, die er entweder aus dem Runenalphabet übernommen oder selbst kreiert hatte. In den allermeisten Fällen wissen wir jedoch nichts über die Erfinder berühmter Alphabete der Vergangenheit. Immerhin bleibt uns aber die Möglichkeit, neuere Alphabete mit älteren zu vergleichen und aus den Buchstabenformen auf eventuelle Vorbilder zu schließen. So können wir mit Sicherheit sagen, daß die Linear-B-Silbenschrift aus dem mykenischen Griechenland um 1400 v. Chr. durch Abwandlung der Linear-A-Silbenschrift des minoischen Kreta entstand.
Immer wenn ein vorhandenes Schriftsystem für eine andere Sprache abgewandelt werden sollte, und das geschah wohl einige hundert Male in der Geschichte, traten Probleme auf, da keine zwei Sprachen einen identischen Lautvorrat besitzen. Einige Buchstaben oder Zeichen wurden einfach ausgelassen, wenn die Laute, die sie in der ursprünglichen Sprache darstellten, in der übernehmenden Sprache nicht existierten. So fehlen im Finnischen die Laute, die viele andere europäische Sprachen mit den Buchstaben b, c, f, g, w, x und z ausdrücken, weshalb die Finnen diese Buchstaben aus ihrer Version des lateinischen Alphabets strichen. Auch das umgekehrte Problem trat häufig auf, nämlich das Fehlen von Buchstaben für Laute, die in der übernehmenden, nicht aber in der ursprünglichen Sprache vorkamen. Dieses Problem wurde auf unterschiedliche Weise gelöst, beispielsweise durch Verwendung einer Kombination aus zwei oder mehreren Buchstaben (wie des th im Englischen, das einen Laut darstellt, für den das griechische und das runische Alphabet einen einzelnen Buchstaben besaßen); durch ein diakritisches (unterscheidendes) Zeichen, das einem bestehenden Buchstaben hinzugefügt wurde (wie beim deutschen Umlaut ö, dem spanischen ñ und den vielen Zeichen, die sich von allen Seiten an polnische und türkische Buchstaben schmiegen); durch Umfunktionierung vorhandener Buchstaben, für welche die übernehmende Sprache keine Verwendung hatte (wie die »Zweckentfremdung« des lateinischen Buchstabens c durch die moderne tschechische Schrift zur Darstellung des tschechischen Lauts ts ); oder einfach durch Erfindung neuer Buchstaben (wie es unsere Vorfahren im Mittelalter taten, als sie die Buchstaben j, u und w schufen). – Das lateinische Alphabet selbst war ebenfalls das Ergebnis einer langen Kette von Nachahmungen. Offenbar wurden Alphabete nur einmal in der Geschichte der Menschheit eigenständig hervorgebracht, und zwar im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeit von Sprechern semitischer Sprachen im Gebiet zwischen dem heutigen Syrien und dem Sinai. All die Hunderte vergangener und heute noch verwendeter Alphabete gingen letztlich auf jenes semitische Uralphabet zurück – in einigen Fällen durch
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