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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Völker, die seither in den Besitz ei­ner Schrift gelangten, haben diese wahrscheinlich über­nommen und an die eigenen Bedürfnisse angepaßt oder ließen sich zumindest von bestehenden Schriftsystemen anregen.
    Von den eigenständig entwickelten Schriften läßt sich die Geschichte der ältesten, der sumerischen Keilschrift (Abbildung 11.1), am genauesten zurückverfolgen. Schon bevor sie Gestalt annahm, verwendeten die Bewohner bäuerlicher Siedlungen in einem Teil des Fruchtbaren Halbmonds Zeichen aus Ton in verschiedenen einfa­chen Formen, um damit über Schafherden oder Getrei­demengen Buch zu führen. In den letzten Jahrhunderten vor 3000 v. Chr. beschleunigte sich die Entwicklung der Buchhaltungstechnik, Formate und Zeichendarstellung und führte zur Entstehung des ersten Schriftsystems. Eine der Neuerungen jener Zeit waren flache Tontafeln, die sich als praktische Schreibflächen eigneten. Anfangs wurden die Zeichen noch mit spitzen Gegenständen in den Ton geritzt, doch allmählich setzten sich Rohrgrif­fel durch, mit denen saubere Eindrücke in dem weichen Ton der Schreibtafeln erzeugt werden konnten. Zu den Innovationen im Bereich Format gehörte die allmähliche Durchsetzung von Konventionen, deren Sinn heute nie­mand im Traum hinterfragen würde. Hierzu gehört bei­spielsweise, daß Buchstaben oder Schriftzeichen waage­recht in Zeilen oder senkrecht in Kolonnen angeordnet werden (Zeilen bei den Sumerern wie bei den modernen Europäern), daß Zeilen/Kolonnen stets in der gleichen Richtung gelesen werden (von links nach rechts bei Su­merern wie Europäern) und daß von oben nach unten und nicht umgekehrt gelesen wird.
    Doch der entscheidende Wandel kam mit der Lösung des Problems, das für praktisch alle Schriftsysteme von grundlegender Bedeutung ist: Wie kommt man zu Zei­chen, die gesprochene Laute und nicht bloß Ideen oder Wörter unabhängig von der Aussprache repräsentie­ren? Frühe Stadien auf dem Weg zur Lösung dieses Pro­blems fand man insbesondere in Tausenden von Tonta­feln, die in den Ruinen der einstigen sumerischen Stadt Uruk am Euphrat rund 300 Kilometer südöstlich des heu­tigen Bagdad bei Ausgrabungen ans Tageslicht kamen. Die ersten sumerischen Schriftzeichen stellten erkenn­bare Abbildungen von Objekten dar (z. B. Fisch, Vogel). Naturgemäß bestanden diese sogenannten Piktogram­me überwiegend aus Ziffern und Substantiven für dingli­che Gegenstände, da es sich lediglich um buchhalterische Aufzeichnungen im Telegrammstil ohne jegliche grammatischen Elemente handelte. Mit der Zeit wurden die Formen der Zeichen abstrakter, was sich insbesondere ab dem Zeitpunkt beobachten läßt, als der Rohrgriffel die spitzen Schreibwerkzeuge ablöste. Neue Zeichen entstan­den durch Kombination bestehender Zeichen. So ergab die Kombination des Zeichens für Kopf mit dem Zeichen für Brot ein neues Zeichen mit der Bedeutung essen.

    Abbildung 11.1 Die Fragezeichen vor China und Ägypten signa­lisieren Zweifel, ob die Schrift in diesen Gebieten völlig unabhän­gig entstand oder auf Anregungen von Schriftsystemen basierte, die zu früheren Zeitpunkten an anderen Orten entwickelt wor­den waren. »Sonstige« bezieht sich auf Schriften, bei denen es sich weder um Alphabete noch um Silbenschriften handelte und die wahrscheinlich unter dem Einfluß älterer Schriften entstanden .
    Die älteste sumerische Schrift bestand aus nichtpho­netischen Logogrammen. Das bedeutet, daß sie nicht auf den spezifischen Lauten der sumerischen Sprache basier­te, sondern daß ihre Zeichen in jeder anderen Sprache bei völlig unterschiedlicher Aussprache die gleiche Be­deutung gehabt hätten – so wie beispielsweise die Ziffer 4 im Englischen, Russischen, Finnischen und Indonesi­schen jeweils ganz unterschiedlich ausgesprochen wird, nämlich als four, četyre, neljä und empat. Der vielleicht wichtigste Schritt in der Geschichte der Schrift war die Einführung der phonetischen Abbildung durch die Su­merer, wobei anfangs ein abstraktes Substantiv (das sich nur schwer durch ein Bild repräsentieren ließ) mit Hil­fe des Zeichens für ein darstellbares, gleich ausgespro­chenes Substantiv abgebildet wurde. So ist es leicht, ein Bild für Pfeil zu zeichnen, aber schwer, den Begriff Le­ben als Piktogramm darzustellen – beide werden in der sumerischen Sprache wie ti ausgesprochen. Nach Ein­führung der phonetischen Abbildung konnte das Bild eines Pfeils entweder Pfeil oder Leben bedeuten. Die

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