Arm und Reich
Völker, die seither in den Besitz einer Schrift gelangten, haben diese wahrscheinlich übernommen und an die eigenen Bedürfnisse angepaßt oder ließen sich zumindest von bestehenden Schriftsystemen anregen.
Von den eigenständig entwickelten Schriften läßt sich die Geschichte der ältesten, der sumerischen Keilschrift (Abbildung 11.1), am genauesten zurückverfolgen. Schon bevor sie Gestalt annahm, verwendeten die Bewohner bäuerlicher Siedlungen in einem Teil des Fruchtbaren Halbmonds Zeichen aus Ton in verschiedenen einfachen Formen, um damit über Schafherden oder Getreidemengen Buch zu führen. In den letzten Jahrhunderten vor 3000 v. Chr. beschleunigte sich die Entwicklung der Buchhaltungstechnik, Formate und Zeichendarstellung und führte zur Entstehung des ersten Schriftsystems. Eine der Neuerungen jener Zeit waren flache Tontafeln, die sich als praktische Schreibflächen eigneten. Anfangs wurden die Zeichen noch mit spitzen Gegenständen in den Ton geritzt, doch allmählich setzten sich Rohrgriffel durch, mit denen saubere Eindrücke in dem weichen Ton der Schreibtafeln erzeugt werden konnten. Zu den Innovationen im Bereich Format gehörte die allmähliche Durchsetzung von Konventionen, deren Sinn heute niemand im Traum hinterfragen würde. Hierzu gehört beispielsweise, daß Buchstaben oder Schriftzeichen waagerecht in Zeilen oder senkrecht in Kolonnen angeordnet werden (Zeilen bei den Sumerern wie bei den modernen Europäern), daß Zeilen/Kolonnen stets in der gleichen Richtung gelesen werden (von links nach rechts bei Sumerern wie Europäern) und daß von oben nach unten und nicht umgekehrt gelesen wird.
Doch der entscheidende Wandel kam mit der Lösung des Problems, das für praktisch alle Schriftsysteme von grundlegender Bedeutung ist: Wie kommt man zu Zeichen, die gesprochene Laute und nicht bloß Ideen oder Wörter unabhängig von der Aussprache repräsentieren? Frühe Stadien auf dem Weg zur Lösung dieses Problems fand man insbesondere in Tausenden von Tontafeln, die in den Ruinen der einstigen sumerischen Stadt Uruk am Euphrat rund 300 Kilometer südöstlich des heutigen Bagdad bei Ausgrabungen ans Tageslicht kamen. Die ersten sumerischen Schriftzeichen stellten erkennbare Abbildungen von Objekten dar (z. B. Fisch, Vogel). Naturgemäß bestanden diese sogenannten Piktogramme überwiegend aus Ziffern und Substantiven für dingliche Gegenstände, da es sich lediglich um buchhalterische Aufzeichnungen im Telegrammstil ohne jegliche grammatischen Elemente handelte. Mit der Zeit wurden die Formen der Zeichen abstrakter, was sich insbesondere ab dem Zeitpunkt beobachten läßt, als der Rohrgriffel die spitzen Schreibwerkzeuge ablöste. Neue Zeichen entstanden durch Kombination bestehender Zeichen. So ergab die Kombination des Zeichens für Kopf mit dem Zeichen für Brot ein neues Zeichen mit der Bedeutung essen.
Abbildung 11.1 Die Fragezeichen vor China und Ägypten signalisieren Zweifel, ob die Schrift in diesen Gebieten völlig unabhängig entstand oder auf Anregungen von Schriftsystemen basierte, die zu früheren Zeitpunkten an anderen Orten entwickelt worden waren. »Sonstige« bezieht sich auf Schriften, bei denen es sich weder um Alphabete noch um Silbenschriften handelte und die wahrscheinlich unter dem Einfluß älterer Schriften entstanden .
Die älteste sumerische Schrift bestand aus nichtphonetischen Logogrammen. Das bedeutet, daß sie nicht auf den spezifischen Lauten der sumerischen Sprache basierte, sondern daß ihre Zeichen in jeder anderen Sprache bei völlig unterschiedlicher Aussprache die gleiche Bedeutung gehabt hätten – so wie beispielsweise die Ziffer 4 im Englischen, Russischen, Finnischen und Indonesischen jeweils ganz unterschiedlich ausgesprochen wird, nämlich als four, četyre, neljä und empat. Der vielleicht wichtigste Schritt in der Geschichte der Schrift war die Einführung der phonetischen Abbildung durch die Sumerer, wobei anfangs ein abstraktes Substantiv (das sich nur schwer durch ein Bild repräsentieren ließ) mit Hilfe des Zeichens für ein darstellbares, gleich ausgesprochenes Substantiv abgebildet wurde. So ist es leicht, ein Bild für Pfeil zu zeichnen, aber schwer, den Begriff Leben als Piktogramm darzustellen – beide werden in der sumerischen Sprache wie ti ausgesprochen. Nach Einführung der phonetischen Abbildung konnte das Bild eines Pfeils entweder Pfeil oder Leben bedeuten. Die
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