Arm und Reich
Hiervon war die Schrift traditionell auf den geographisch kleinsten Raum beschränkt: Vor der Expansion des Islam und Europas seit Beginn des Kolonialzeitalters fehlte sie in Australien, in der pazifischen Inselwelt, in Afrika südlich des Äquators und in der gesamten Neuen Welt mit Ausnahme eines kleinen Teils von Mesoamerika. Als Folge dieser begrenzten Verbreitung sahen Völker, die sich selbst als zivilisiert priesen, in der Schrift stets eines der schärfsten Unterscheidungsmerkmale zwischen sich und den »Barbaren« oder »Wilden«.
Wissen ist Macht, wie ein altes Sprichwort sagt. Modernen Gesellschaften verleiht die Schrift Macht, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, Wissen mit weitaus größerer Genauigkeit und in viel größerer Quantität und Detailliertheit weiterzugeben, auch solches aus fernen Gegenden und ferner Vergangenheit. Zwar gelang es einigen Völkern (insbesondere den Inkas), große Reiche auch ohne Schrift zu verwalten, und »zivilisierte« Völker trugen keineswegs immer den Sieg über »Barbaren« davon, wie die römischen Heere erfahren mußten, als sie auf die Hunnen trafen. Die Eroberung Nord- und Südamerikas, Sibiriens und Australiens durch Europäer verkörpert jedoch den typischen Ausgang von Begegnungen zwischen Schriftbesitzern und Schriftlosen in der jüngeren Vergangenheit.
Neben Waffen, Krankheitserregern und politischem Zentralismus spielte die Schrift bei Eroberungszügen eine wichtige Rolle. Die Befehle von Monarchen und Kaufleuten, die Flotten aufstellten und in die Ferne schickten, ergingen in schriftlicher Form. Die Schiffe segelten nach Land- und Seekarten sowie Aufzeichnungen vorheriger Expeditionen. Durch Schilderung der Reichtümer und fruchtbaren Länder, die darauf warteten, von den Eroberern in Besitz genommen zu werden, gaben Berichte früherer Expeditionen den Anstoß zu weiteren Fahrten. Die Aufzeichnungen von diesen Reisen vermittelten späteren Expeditionen wertvolle Informationen über die zu erwartenden Bedingungen und halfen bei der Vorbereitung. Schließlich wurden auch die so entstehenden Reiche mit Hilfe der Schrift verwaltet. Zwar konnten alle genannten Arten von Informationen auch in schriftlosen Gesellschaften auf verschiedene andere Weise übermittelt werden, doch ermöglichte die Schrift eine einfachere, detailliertere und genauere Wiedergabe mit größerer Überzeugungskraft.
Wie kam es angesichts dieser überragenden Vorteile, daß nur einige Völker die Schrift erfanden und alle anderen nicht? Warum wurde beispielsweise von keiner einzigen traditionellen Jäger- und Sammlerkultur die Schrift erfunden oder übernommen? Warum entstand die Schrift im minoischen Kreta, aber nicht im polynesischen Tonga? Wie viele Male wurde die Schrift in der Menschheitsgeschichte unabhängig entwickelt, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck? Warum entstand sie in manchen ihrer Ursprungsgebiete sehr viel früher als in anderen? Heute können zum Beispiel fast alle Japaner und Skandinavier lesen und schreiben, die meisten Iraker jedoch nicht: Wie kam es, daß die Schrift im Irak dennoch fast 4000 Jahre früher erfunden wurde?
Auch die Ausbreitung der Schrift von ihren Ursprungsstätten wirft eine Reihe wichtiger Fragen auf: Warum breitete sie sich beispielsweise vom Bereich des Fruchtbaren Halbmonds nach Äthiopien und Ägypten aus, nicht aber von Mexiko zu den Anden? Erfolgte die Ausbreitung von Schriftsystemen durch einfache Nachahmung, oder ließen sich benachbarte Völker durch vorhandene Systeme lediglich inspirieren, um dann eigene zu erfinden? Wenn ein Schriftsystem für eine Sprache gut geeignet ist, wie geht man dann vor, um eins für eine andere Sprache zu entwickeln?
Ähnliche Fragen stellen sich, wenn man versucht, Ursprung und Ausbreitung zahlreicher anderer Aspekte der menschlichen Kultur zu verstehen – wie etwa Technik, Religion und Landwirtschaft. Dem an solchen Fragen interessierten Historiker bietet die Schrift den Vorteil, daß sich ihre Herkunft und Ausbreitung oft anhand der schriftlichen Aufzeichnungen selbst präzise rekonstruieren läßt. Wir werden deshalb der Entstehung und Entwicklung der Schrift nicht nur wegen ihrer eigenen Bedeutung nachgehen, sondern auch wegen der allgemeinen kulturgeschichtlichen Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen lassen.
Die drei Grundstrategien, auf denen Schriftsysteme basieren, unterscheiden sich nach der Größe der
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