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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Hiervon war die Schrift traditionell auf den geographisch klein­sten Raum beschränkt: Vor der Expansion des Islam und Europas seit Beginn des Kolonialzeitalters fehlte sie in Australien, in der pazifischen Inselwelt, in Afrika südlich des Äquators und in der gesamten Neuen Welt mit Ausnahme eines kleinen Teils von Mesoamerika. Als Folge dieser begrenzten Verbreitung sahen Völker, die sich selbst als zivilisiert priesen, in der Schrift stets eines der schärfsten Unterscheidungsmerkmale zwi­schen sich und den »Barbaren« oder »Wilden«.
    Wissen ist Macht, wie ein altes Sprichwort sagt. Mo­dernen Gesellschaften verleiht die Schrift Macht, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, Wissen mit weitaus grö­ßerer Genauigkeit und in viel größerer Quantität und Detailliertheit weiterzugeben, auch solches aus fernen Gegenden und ferner Vergangenheit. Zwar gelang es ei­nigen Völkern (insbesondere den Inkas), große Reiche auch ohne Schrift zu verwalten, und »zivilisierte« Völ­ker trugen keineswegs immer den Sieg über »Barbaren« davon, wie die römischen Heere erfahren mußten, als sie auf die Hunnen trafen. Die Eroberung Nord- und Südamerikas, Sibiriens und Australiens durch Europä­er verkörpert jedoch den typischen Ausgang von Be­gegnungen zwischen Schriftbesitzern und Schriftlosen in der jüngeren Vergangenheit.
    Neben Waffen, Krankheitserregern und politischem Zentralismus spielte die Schrift bei Eroberungszügen eine wichtige Rolle. Die Befehle von Monarchen und Kauf­leuten, die Flotten aufstellten und in die Ferne schick­ten, ergingen in schriftlicher Form. Die Schiffe segelten nach Land- und Seekarten sowie Aufzeichnungen vor­heriger Expeditionen. Durch Schilderung der Reichtü­mer und fruchtbaren Länder, die darauf warteten, von den Eroberern in Besitz genommen zu werden, gaben Berichte früherer Expeditionen den Anstoß zu weiteren Fahrten. Die Aufzeichnungen von diesen Reisen vermit­telten späteren Expeditionen wertvolle Informationen über die zu erwartenden Bedingungen und halfen bei der Vorbereitung. Schließlich wurden auch die so ent­stehenden Reiche mit Hilfe der Schrift verwaltet. Zwar konnten alle genannten Arten von Informationen auch in schriftlosen Gesellschaften auf verschiedene andere Weise übermittelt werden, doch ermöglichte die Schrift eine einfachere, detailliertere und genauere Wiederga­be mit größerer Überzeugungskraft.
    Wie kam es angesichts dieser überragenden Vorteile, daß nur einige Völker die Schrift erfanden und alle an­deren nicht? Warum wurde beispielsweise von keiner einzigen traditionellen Jäger- und Sammlerkultur die Schrift erfunden oder übernommen? Warum entstand die Schrift im minoischen Kreta, aber nicht im poly­nesischen Tonga? Wie viele Male wurde die Schrift in der Menschheitsgeschichte unabhängig entwickelt, un­ter welchen Umständen und zu welchem Zweck? Wa­rum entstand sie in manchen ihrer Ursprungsgebiete sehr viel früher als in anderen? Heute können zum Bei­spiel fast alle Japaner und Skandinavier lesen und schrei­ben, die meisten Iraker jedoch nicht: Wie kam es, daß die Schrift im Irak dennoch fast 4000 Jahre früher er­funden wurde?
    Auch die Ausbreitung der Schrift von ihren Ursprungs­stätten wirft eine Reihe wichtiger Fragen auf: Warum breitete sie sich beispielsweise vom Bereich des Fruchtba­ren Halbmonds nach Äthiopien und Ägypten aus, nicht aber von Mexiko zu den Anden? Erfolgte die Ausbrei­tung von Schriftsystemen durch einfache Nachahmung, oder ließen sich benachbarte Völker durch vorhandene Systeme lediglich inspirieren, um dann eigene zu erfin­den? Wenn ein Schriftsystem für eine Sprache gut ge­eignet ist, wie geht man dann vor, um eins für eine an­dere Sprache zu entwickeln?
    Ähnliche Fragen stellen sich, wenn man versucht, Ur­sprung und Ausbreitung zahlreicher anderer Aspekte der menschlichen Kultur zu verstehen – wie etwa Technik, Religion und Landwirtschaft. Dem an solchen Fragen interessierten Historiker bietet die Schrift den Vorteil, daß sich ihre Herkunft und Ausbreitung oft anhand der schriftlichen Aufzeichnungen selbst präzise rekonstruie­ren läßt. Wir werden deshalb der Entstehung und Ent­wicklung der Schrift nicht nur wegen ihrer eigenen Be­deutung nachgehen, sondern auch wegen der allgemei­nen kulturgeschichtlichen Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen lassen.
    Die drei Grundstrategien, auf denen Schriftsysteme basieren, unterscheiden sich nach der Größe der

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